Römische Eilpost an Brüssel - Offene EU-Grenzen auf Prüfstand Von Hanns-Jochen Kaffsack, dpa

26.04.2011 16:12

Wochenlang haben Paris und Rom um die Migrantenflut aus Tunesien
gestritten. Keiner wollte sie haben. Nun fordern Nicolas Sarkozy und
Silvio Berlusconi gemeinsam neue Regeln für Europas Reisefreiheit.
Die ersten Reaktionen aus Brüssel klingen wenig begeistert.

Rom (dpa) - Französisch-italienischer Eilbrief an die EU-Spitze in
Brüssel. Nachdem die tunesische Flüchtlingswelle einen diplomatischen
Zwist zwischen den Nachbarn Paris und Rom ausgelöst hatte, verlangen
Staatspräsident Nicolas Sarkozy und Regierungschef Silvio Berlusconi
neue Regeln in Europa. Bei «außergewöhnlichen Schwierigkeiten» soll
e
es wohl möglich sein, dass die 25 Länder des Schengen-Abkommens die
Reisefreiheit aufheben, also Grenzkontrollen wieder einführen. Ein
Hintergrund dafür: Angesichts des erbitterten Bürgerkrieges in Libyen
könnte bald eine neue Migrantenwelle von Süden her Europa erreichen.

Es ist ein gemeinsamer Brief an die EU-Spitzen, doch mehr nach dem
Geschmack des französischen Staatspräsidenten Sarkozy. Frankreich hat
sich mit Händen und Füßen gewehrt, tunesische Migranten aus Italien
in Ventimiglia über die Grenze ins Land zu lassen. Dutzende Tunesier
wiesen die Franzosen ab - weil sie nicht genügend Bargeld vorweisen
konnten. Der innenpolitisch angeschlagene Berlusconi hatte mehrfach
klar gemacht, «nicht mit Sarkozy streiten zu wollen.» Paris hat den
bilateralen Gipfel gewollt, Rom eingewilligt: Italien macht derzeit
angesichts der Skandale um Berlusconi auf dem internationalen Parkett
keine «bella figura», kann sich somit keine neuen Fronten erlauben.

Also diente der bilaterale Gipfel in der lauschigen Villa Madama
am nördlichen Stadtrand Roms dazu, nach dem Streit jetzt Einigkeit zu
demonstrieren. Es wird konkrete Solidarität für jene Länder
eingefordert, die mit einem «Notstand» - wie etwa einem
Flüchtlingsansturm - klar kommen müssen. Der Zeitpunkt scheint
günstig: Anfang Mai will die EU-Kommission neue Vorschläge rund um
Schengen auf den Tisch legen. Rom scheint keine Alternativen zu
einer «Anpassung» des Vertrages von Schengen zu sehen. Es könnte in
Kauf nehmen, einer Flüchtlingswelle ausgesetzt zu sein - und im
Norden geschlossene Grenzen vorzufinden.

Nationalisten, Populisten und ausländerfeindliche Kräfte würden
sich freuen, wenn nicht mehr so offene Grenzen die Idee von Europa
ein Stück weiter aufweichen würden. Also Grenzen dicht künftig nicht

nur für den G8-Gipfel in Heiligendamm oder in L'Aquila oder die
Fußball-WM? Für den Élysée-Bewohner wie für den Regierungschef im

Palazzo Chigi hat der gemeinsame Vorstoße gen Brüssel nicht zuletzt
innenpolitische Gründe. In Frankreich sind 2012 Präsidentenwahlen.
Nicolas Sarkozy habe die Chefin der rechtsextremen Nationalen Front
(FN), Marine Le Pen, im Nacken und werde darob fanatisch, meint die
Opposition dort. Immerhin schnitt Le Pen in manchen Umfragen besser
ab als Sarkozy.

Weil in Europa ein populistischer Wind weht, wie zuletzt die
Wahlen in Finnland offenbarten, muss auch Berlusconi die Segel weiter
danach ausrichten. Was für ihn kein Problem ist, hat er doch bereits
gezeigt, wie man mit Sicherheitsparolen an den Urnen gewinnen kann.
In Italien stehen im Mai Provinz- und Kommunalwahlen an - die der
konservative Berlusconi zu einem «nationalen Test» ausgerufen hat.
Dabei hat er mit Umberto Bossis Lega Nord die populistische Strömung
als Koalitionspartner. Und er will allen Skandalen und juristischen
Querelen zum Trotz regulär bis 2013 der Ministerpräsident bleiben.

Aber jetzt bekommen der EU-Kommissionspräsident José Manuel
Barroso und Ratspräsident Herman Van Rompuy erst einmal Post aus der
Ewigen Stadt - mit der die Nachbarn Frankreich und Italien ihren
Streit um die Migranten aus dem unruhigen Tunesien beilegen wollen.

Die erste Reaktion in Brüssel auf die Signale aus Rom war
eindeutig: Der Vorschlag beider Länder, das Schengen-Abkommen zur
Reisefreiheit in Europa vorübergehend auszusetzen, sei vollkommen
ausgeschlossen. «Das ist keine Option», sagte ein Sprecher der
EU-Behörde in Brüssel.

# dpa-Notizblock

## Internet
- [Text Schengener Abkommen]( http://dpaq.de/8auKl)
- [Brief an die EU, in Italienisch] (http://tinyurl.com/5swefvd)