Europa ohne Grenzen um jeden Preis? Schengen-Reform in Kritik Von Marion Trimborn, dpa

16.09.2011 16:19

Mischt sich Brüssel mit der Schengen-Reform in nationale
Angelegenheiten ein? Ja, sagen Berlin und Paris. Die beiden größten
Staaten der EU machen Front gegen die Pläne. Rechtsexperten geben
ihnen Recht.

Brüssel (dpa) - Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Mehr als
25 Jahre lang haben die Schengen-Staaten gut mit dem Vertrauen in
ihre Nachbarn gelebt. Alle waren sich einig: An den Außengrenzen der
EU werden die Grenzen bewacht, an den Binnengrenzen ist die
Reisefreiheit grenzenlos. Dies galt als unveränderlicher Pakt. Doch
es bedurfte nur mehrerer tausend nordafrikanischer Flüchtlinge und
Zollkontrollen in Dänemark, um das Vertrauen in Misstrauen umschlagen
zu lassen. Als Arznei empfiehlt die EU-Kommission, Entscheidungen
über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf europäische Ebene
zu hieven. Doch Berlin, Paris und Madrid wollen in dieser ureigenen
nationalen Angelegenheit niemand anderen mitentscheiden lassen.

Der Widerstand ist gewaltig. In einer äußerst seltenen Aktion
haben die Staaten schon gegen Brüssel gefeuert, noch bevor die
Kommission ihren Vorschlag auch nur vorstellen konnte. «Wir lassen
uns von Brüssel nicht vorschreiben, wann wir Kontrollen durchführen.
Wenn wir es für notwendig halten, machen wir sie auch», machte
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) klar. Noch deutlicher
wird ein französischer Diplomat: «Sollen wir etwa ein Mitgliedsland
am anderen Ende Europas fragen, was sie über den Zustand der
öffentlichen Sicherheit in unserem Land denken?»

Experten geben dem Brüsseler Ansatz kaum noch Chancen auf
Verwirklichung. Im Ministerrat dürften die großen Staaten in den
kommenden Monaten alles daran setzen, das Papier zu verwässern und
das vorgesehen Veto der Kommission zu verhindern. Dabei hoffte
EU-Kommissarin Cecilia Malmström, über EU-Mehrheitsentscheidungen das
Vertrauen in das «fantastische Projekt» Schengen wiederherstellen zu
können: «Wir wollen vermeiden, dass ein Staat in der Zeitung liest,
dass sein Nachbar Grenzkontrollen einführen wird.»

Doch nicht nur politisch, sondern auch rechtlich steht die
EU-Behörde mit ihrem Reformvorschlag auf wackligen Beinen. Artikel 72
des Lissabonner Vertrags weist den Mitgliedsstaaten ausschließlich
die «Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit» zu. Sprich:
Grenzschutz ist nationale Angelegenheit.

Mit ihren Plänen zur Schengen-Reform greift die EU, die in
Karikaturen gerne als sich ständig ausbreitende Krake dargestellt
wird, nach Ansicht von Rechtsexperten über ihren Machtbereich hinaus
in geltendes Recht ein. «Das ist eine Revision des Vertrages»,
kritisiert Yves Pascouau von der renommierten Brüsseler Denkfabrik
European Policy Centre EPC den Vorschlag. «Die EU-Kommission
versucht, Macht in einem Bereich zu erlangen, der ihr nicht zusteht.»

Doch das Problem drängt: Es ist der wachsende Druck auf die
Außengrenzen der EU, der zum Handeln zwingt. Die Staaten wollen die
Notbremse ziehen dürfen, wenn sich Tausende illegal auf ihr
Territorium begeben. Genau dies hatte Frankreich im Frühjahr getan
und seine Grenzen gegen tunesische Flüchtlinge geschlossen. «Damit
hat Frankreich zwar die Verträge beachtet, aber gegen den Geist von
Schengen verstoßen», kritisiert Malmström.

Ohne wasserdichte Kontrollen sind gemeinsame Außengrenzen
unvorstellbar. Und da tun sich Lücken auf. Missmut schlägt
Griechenland entgegen, das mit dem Flüchtlingsstrom über die Grenze
zur Türkei immer wieder überfordert ist. «Athen fügt sich nicht der

kollektiven Disziplin und erledigt seine Hausaufgaben nicht»,
kritisiert ein EU-Diplomat. Nach den Brüsseler Plänen könnten künft
ig
die Nachbarn aktiv werden und Kontrollen einführen, wenn ein Staat
seine Außengrenzen nicht ausreichend absichert.

Athen, das unter der Euro-Schuldenkrise leidet, fühlt sich nun
auch bei der Grenzfrage an den Pranger gestellt. In Brüssel spricht
man hinter vorgehaltener Hand schon von der «Griechen-Klausel».
Dagegen dürften sich Rumänien und Bulgarien, die seit Monaten um die
Vollmitgliedschaft im Schengen-Raum kämpfen, freuen. Der Vorschlag
erleichtert ihren Beitritt. Falls die ehemaligen osteuropäischen
Länder, wie von Berlin befürchtet, ihre Grenzen nicht ordentlich
kontrollieren, könnten die Nachbarn wieder Schlagbäume aufstellen.

# dpa-Notizblock

## Internet
- [Mitteilung EU-Kommission]( http://dpaq.de/9Leap)
- [Text Schengener Abkommen](http://dpaq.de/8auKl)
- [Schengen-Grenzkodex]( http://dpaq.de/ieUkk)
- [Vertrag von Lissabon](http://dpaq.de/VJh4R)

## Orte
- [EU-Kommission](Rue de la Loi 200, B-1049 Brüssel, Belgien)