Mächtig einsam: Euro-Retter Draghi hält unbeirrt Kurs Von Jörn Bender, dpa

28.10.2016 05:45

Der Chor der Kritiker ist vielstimmig - vor allem in Europas größter
Volkswirtschaft Deutschland. Doch Mario Draghi lässt sich nicht
beirren. Der EZB-Präsident hält seinen Kurs für alternativlos.

Frankfurt/Main (dpa) - Ausgerechnet ein Italiener. «Mamma mia»,
stöhnte die «Bild»-Zeitung vor Mario Draghis Amtsantritt als oberster

Währungshüter Europa. «Bei den Italienern gehört Inflation zum Lebe
n
wie Tomatensoße zur Pasta!» Seit dem 1. November 2011 führt Draghi
die Europäische Zentralbank (EZB) - doch die gefürchtete
Geldentwertung hat trotz einer beispiellosen Geldflut in diesen fünf
Jahren nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Die Inflation im Euroraum
ist im Keller. Dennoch sind viele Menschen gerade in Deutschland
nicht gut zu sprechen auf den Italiener an der Spitze der Notenbank.

Wahlweise ist von «Fehlentwicklung», «zerstörerischer Geldpolitik
»
oder «Enteignung der Sparer» die Rede, Banken und Versicherungen
fühlen sich durch Draghis ultralockerere Geldpolitik gegängelt und
ihrer Erträge beraubt. «Wer kann Mario Draghi stoppen?», fragte die
«Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» im April dieses Jahres.

Schon zu seinem Einstand bei der Notenbank in Frankfurt überraschte
der ehemalige Exekutivdirektor der Weltbank (1984-1990) und spätere
Goldman-Sachs-Investmentbanker (2002-2005) mit einem Paukenschlag:
Draghi senkte die Zinsen. Inzwischen liegt der Leitzins bei Null,
Banken müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie Geld bei der Notenbank
parken, und die EZB kauft Monat für Monat für 80 Milliarden Euro
Staats- und Unternehmensanleihen - noch bis mindestens März 2017.

Verkehrte Welt. «Wie wollen Sie heute Kindern den Sinn des Sparens
erklären, wenn am Ende des Jahres keine Zinsen gezahlt werden? Wenn
sich der Verzicht auf Konsum heute nicht lohnt?», fragt die Chefin
von HSBC Deutschland, Carola Gräfin von Schmettow. «Im besten Fall
erziehen wir eine Generation von Eigenheimbesitzern und Aktionären.»

In der Tat ist das viele Notenbank-Geld seit Jahren der Schmierstoff
für die Börsen. Der deutsche Leitindex Dax etwa legte - allerdings
nach vorherigem Absturz in der Finanzkrise - seit November 2011 um
etwa 80 Prozent zu. Das Zinstief heizt auch die Preise an den
Immobilienmärkten an, weil «Betongold» so gefragt ist wie lange nicht

und Kredite von der Bank kaum noch etwas kosten.

Es gibt also auch Profiteure des EZB-Kurses. Und selbst Kritiker
halten Draghi zugute, den Währungsraum im Sommer 2012 vor dem
Zusammenbruch bewahrt zu haben. «Die EZB ist bereit, im Rahmen ihres
Mandats alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu retten», sagte
«Super-Mario» damals. «Und glauben Sie mir: Es wird genug sein.»

Und der einstige Jesuitenschüler, der nächstes Jahr 70 wird, hält
unbeirrt Kurs - obwohl er und seine Mitstreiter im EZB-Rat sich immer
wieder rechtfertigen müssen. Vielen ist die Machtfülle der nicht
demokratisch gewählten Notenbank nicht geheuer. Der Europäische
Gerichtshof (EuGH) befasste sich ebenso mit einzelnen Maßnahmen der
Frankfurter Euroretter wie das Bundesverfassungsgericht. Auch wenn
Karlsruhe Leitplanken für den deutschen Beitrag einzog - durchfallen
ließ auch Deutschlands höchstes Gericht Draghis Anti-Krisen-Kurs
nicht.

Schon als junger Wirtschaftsprofessor habe sich der gebürtig aus Rom
stammende Draghi durch eine gewisse Sturheit ausgezeichnet, war
kürzlich in der «Wirtschaftswoche» zu lesen. Als er das Examen an der

Universität von Trient abnahm, hätten seine Studenten ihm erklärt,
sie wollten Fragen nur als Kollektiv beantworten. Draghi habe
entgegnet: «Wenn der Kollektivsprecher richtig antwortet, besteht die
ganze Klasse. Liegt er falsch, fallen alle durch.» Der Sprecher der
Gruppe antwortete falsch - Draghi ließ alle durchfallen.

Beharrlich verteidigt Draghi auch als EZB-Chef seine Überzeugung:
«Unsere Maßnahmen greifen. Sie tragen dazu bei, dass sich die
Erholung fortsetzt und Arbeitsplätze entstehen; sie sorgen also für
einen Aufschwung, von dem letztlich auch die Sparer und Rentner in
Deutschland und im Euroraum insgesamt profitieren», betonte er Ende
September im Bundestag. Wenige Tage später gab er vor der
versammelten Finanzelite bei der Jahrestagung von Internationalem
Währungsfonds (IWF) und Weltbank in Washington zu Protokoll:
Spätestens Anfang 2019 werde die Inflation im Euroraum wieder die
EZB-Zielmarke von knapp unter zwei Prozent erreichen. In Herbst 2019
endet turnusgemäß Draghis achtjährige Amtszeit als EZB-Präsident.