Ceta am Abgrund? Belgische Region lähmt EU-Handelspolitik Von Alkimos Sartoros, dpa

23.10.2016 16:37

Eine kleine belgische Provinz könnte die gesamte europäische
Handelspolitik ins Wanken bringen. Der Streit um das Ceta-Abkommen
mit Kanada ist aber auch symptomatisch. Immer häufiger lähmen
Einzelinteressen die EU.

Brüssel (dpa) - Auf den Schrecken folgten hektische Krisengespräche:
Zunächst hatte Kanadas Handelsministerin Chrystia Freeland noch den
Tränen nahe verkündet, mit der EU sei derzeit kein internationales
Abkommen zu schließen. Der jahrelang mühsam ausgehandelte
Ceta-Freihandelspakt zwischen der EU und Kanada stand scheinbar vor
dem Aus. Kurz darauf klang sie nach einem Treffen mit
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) am Wochenende etwas
gefasster: Kanada sei nach wie vor zur Unterzeichnung bereit, der
Ball liege nun bei den Europäern. Doch Europa hat ein großes Problem.

Der Streit um Ceta ist symptomatisch. Vehement vertreten immer wieder
einzelne EU-Staaten ihre Partikularinteressen und bedrohen damit
teilweise die Handlungsfähigkeit des in den vergangenen Jahren auf 28
Mitglieder angewachsenen Staatenbundes. In der Flüchtlingskrise etwa
geht die von den Staaten mehrheitlich beschlossene Verteilung von
120 000 Flüchtlingen seit etlichen Monaten nur schleppend voran, weil
sich vor allem die Slowakei und Ungarn mit allen Mitteln dagegen
wehren. Bei Ceta hält nun sogar die belgische Region Wallonie ganz
Europa in Atem.

«Wir haben noch ein paar kleine Probleme», sagte der wallonische
Regierungschef Paul Magnette am Samstag ungerührt. Unter anderem geht
es dabei um belgische Sozial- und Umweltstandards und die
Landwirtschaft. Es brauche noch etwas Zeit, sagt Magnette. Ob er die
bekommt scheint jedoch unklar. Eigentlich soll das Abkommen am
kommenden Donnerstag feierlich mit dem kanadischen Premierminister
Justin Trudeau unterzeichnet werden. Am Montag stehen weitere
Krisenberatungen unter anderem zwischen EU-Ratschef Donald Tusk und
Belgiens Premier Charles Michel an, um zu entscheiden, ob der Termin
für das Treffen gehalten werden kann.

Dass jetzt der überwiegende Teil Europas und Kanada auf den
südbelgischen Provinzfürsten warten, hat teilweise innerbelgische
Gründe. Die Föderalregierung in Brüssel von Premierminister Michel
braucht zur Zustimmung grünes Licht der Regionalregierung. Die in der
Wallonie regierenden Sozialisten (PS) haben aber «kein Interesse
daran, der Föderalregierung das Leben zu erleichtern, ganz im
Gegenteil», sagt der Brüsseler Politikwissenschaftler Dave Sinardet.

Der Föderalstaat Belgien basiert teils auf fragilen und mühsam
ausgehandelten Interessensausgleichen zwischen dem
niederländischsprachigen Landesteil Flandern im Norden und der
französischsprachigen Wallonie im Süden des Landes. An der
Michel-Regierung sind Liberale, Konservative und die flämischen
Nationalisten beteiligt - nicht aber die sozialistische Partei.

Zwischen beiden Landesteilen gibt es zudem große Wirtschaftsgefälle.
Im Vergleich zum relativ wohlhabenden Norden leidet die teils
ländlich geprägte Wallonie unter Desindustrialisierung und höherer
Arbeitslosigkeit. Globalisierung wird dort in der öffentlichen
Diskussion deutlich kritischer gesehen.

Doch die EU-Staaten haben sich den Ärger teils selbst eingebrockt.
Einem vorangegangenen juristischen Gutachten aus der EU-Kommission
zufolge gab es keine Notwendigkeit, Ceta als Vertrag einzustufen, dem
nicht nur das Europaparlament, sondern auch sämtliche nationalen
Parlamente zustimmen müssen.

Deutschland und etliche andere Staaten hatten dafür im Sommer jedoch
Druck auf EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ausgeübt.
Juncker wundert sich zudem über die teils flammende Kritik an dem
Abkommen mit dem engen Partner Kanada.

Doch die Diskussionen um den nun in den Fokus gerückten Handelspakt
Ceta berühren auch das grundsätzliche Problem, dass viele Menschen in
Europa die EU als entrücktes Elitenkonstrukt wahrnehmen. «Europäische

Kommission und Rat müssen sich jetzt die Frage gefallen lassen, ob
sie weiter hinter dem Rücken der Öffentlichkeit Handelsverträge
abschließen wollen», sagte etwa die Vorsitzende der linken Fraktion
im Europaparlament, Gabi Zimmer.

Ob und mit welchen Anreizen die Wallonie noch zur Zustimmung zu Ceta
bewegt werden kann, war zunächst offen. Am entspanntesten zeigte sich
noch der sozialdemokratische österreichische Bundeskanzler Christian
Kern: «Es sind noch einige Tage Zeit bis zum 27. Oktober. Ich gehe
davon aus, dass bis dahin eine Lösung gefunden sein wird.»