Bei den Wallonen: «Sie sehnen sich nach Identität» Von Nikolai Huland, dpa

25.10.2016 05:45

Die Wallonie hält Europa in Atem. Die belgische Region könnte das
Freihandelsabkommen mit Kanada platzen lassen und damit die EU
blamieren. Warum funktioniert der Widerstand?

Charleroi (dpa) - Die Wallonie, das gallische Dorf: Die 3,6 Millionen
französischsprechenden Belgier gelten manchem als ebenso liebenswert
aufmüpfig wie einst Asterix und Obelix. Weil sie bislang das
EU-Kanada-Freihandelsabkommen blockieren, sind die Wallonen für
Ceta-Gegner die letzten Kämpfer, die noch Widerstand gegen eine
Übermacht leisten.

Viele Menschen mögen den Außenseiter, der mit Raffinesse und Chuzpe
den Großen zum Stolpern bringt. Das ist nicht nur beim Fußball so.
Wer Ceta-Gegner sucht, kann in der größten wallonischen Stadt, in
Charleroi, welche finden. Der Ort ist die Heimat des sozialistischen
Regierungschefs der Wallonie, Paul Magnette. Der Mann ist auch
Bürgermeister der Stadt.

«Es ist das erste Mal, dass ich Magnette zustimme», sagte eine Frau
in einem Café in der Innenstadt. Sie unterstütze ihn eigentlich
nicht, aber diesmal eben doch. «Ceta ist schlecht für Belgien»,
wiederholt sie immer wieder. Auch ihre Tochter, die in Brüssel
Medizin studiert, sehe das so, betont die 48-Jährige.

Sie arbeitet als Labortechnikerin und ist auf einem Bauernhof in der
Wallonie aufgewachsen. Die kanadischen Farmer könnten günstiger
produzieren und würden die belgische Landwirtschaft zerstören,
erklärt die Frau. Und: «Ich will lokale Sachen essen.» Ähnliches
sagen Viele in Charleroi, das rund fünfzig Kilometer südlich von
Brüssel liegt. Mitten in der Wallonie.

In Charleroi sagt man: Die Niederländer machen Witze über flämische
Belgier, die Flamen machen Witze über die Wallonen, und der Rest der
Wallonie macht sich über Charleroi lustig. Leser der niederländischen
Zeitung «Volkskrant» wählten es einmal zu «hässlichsten Stadt der

Welt». Das Selbstwertgefühl einer Stadt könnte gepflegter sein.
Symbol der Traurigkeit ist eine seit vielen Jahren nie genutzte
U-Bahn-Strecke.

Rund 200 000 Menschen leben in der Industriestadt, die leidet. Fast
jeder Vierte hat keinen Job. Und bald schließt ein amerikanischer
Baumaschinen-Hersteller ein Werk.

«Paul Magnette ist kein Held. Er macht das, damit ihn die Leute
wählen», sagt Michaël Goffaux. Der 28-Jährige protestiert seit drei

Jahren gegen Ceta. Sein Beruf ist, für die Umweltschutzorganisation
Greenpeace Geld zu sammeln. Aber in Sachen Ceta spreche er nur für
sich, betont er.

Auf dem Rücken seines Handys klebt ein Aufruf, den ebenfalls
geplanten Europa-USA-Handelspakt TTIP zu stoppen. Ceta sei ein
«trojanisches Pferd», mit dem auch der USA-Deal eingefädelt werden
solle, findet er. Beide Abkommen seien antidemokratisch, gefährdeten
Arbeitsplätze und würden europäische Standards aushebeln,
argumentiert Goffaux.

Und wie ticken die Menschen in dieser Region? Ex-Fußballstar Marc
Wilmots ist von dort. «Wallonen sind locker, immer auf Spaß aus. Wir
orientieren uns an der französischen Lebensart», sagte der ehemalige
Nationaltrainer Belgiens mal dem Magazin «11Freunde». So ähnlich
wirbt der Tourismusverband.

Von solchen Beschreibungen hält der Künstler Nicolas Buissart wenig.
In Charleroi und der gesamten Wallonie hätten die Leute Angst vor der
Globalisierung, sagt er. Sie werde die Menschen ärmer machen,
befürchteten sie. Der gebürtige Wallone bietet Touren durch Charleroi
an und bewirbt sie mit der Hässlichkeit der Stadt. «City Safari»
nennt er das.

«Wir haben zu viel verloren», sagt der 36-Jährige. Früher machten
Kohleabbau und Stahlindustrie die Gegend um Charleroi reich, doch
davon ist seit dem Strukturwandel der 1970er und 1980er Jahre wenig
geblieben. Der Norden, Flandern, ist reicher. Magnette berühre mit
seinem Kurs viele Wallonen, sagt Buissart. «Viele Leute denken, dass
sie einen Anführer gefunden haben. Sie sehnen sich nach Identität.»