Winterkälte offenbart Flüchtlingselend in Griechenland Von Alexia Angelopoulou und Takis Tsafos, dpa

11.01.2017 13:54

Tausende Menschen mussten auf den griechischen Inseln tagelang bei
Minusgraden ohne Strom und Wasser ausharren. Nun drohen mit der
Schneeschmelze weitere Probleme. Hilfsorganisationen schlagen Alarm.

Athen (dpa) - Kalte Zelte, die unter einem halben Meter Schnee
zusammenzubrechen drohen, gefrorener Boden, der tagsüber zu Matsch
wird - in den vergangenen Tagen haben Bilder aus den
Flüchtlingslagern der griechischen Inseln einmal mehr das Elend der
Menschen dort ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Nun steigen die
Temperaturen schlagartig, mit Schmelzwasser und starkem Regen drohen
neue Probleme. Und der Winter ist in Griechenland noch längst nicht
vorbei.

«Wie man die Menschen hier leben lässt, ist in höchstem Grade
unverantwortlich und unmenschlich», bringt Sophie de Vries die
Situation im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos auf den Punkt. Die
Medizinerin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet dort
seit sechs Monaten. Ihr Alltag ist ein Kampf gegen Windmühlen. «Rund
2000 Menschen, darunter Kleinkinder, Schwangere, Traumatisierte leben
hier in dünnen Nylonzelten ohne Wasser, Heizung und Strom. Sie haben
keine Matratzen, sie schlafen auf dem Boden - und das in manchen
Fällen seit acht, neun Monaten.»

Im Winter kommen die Helfer mit der Versorgung überhaupt nicht mehr
nach: «Die Flüchtlinge sind ständig nass. Wir verteilen trockene
Kleider, aber wenn es regnet, geht alles wieder von vorne los,
mehrfach pro Tag. Das ganze Lager ist ein einziges matschiges Loch.
Wenn es besonders stark regnet, werden ganze Zelte weggespült.» Die
Menschen seien geflohen und versuchten nun, im Lager zu überleben.
Wer nicht sowieso schon krank sei, werde krank: «Die Zustände bergen
enorme Gesundheitsrisiken.»

Auch die Mediziner der Hilfsorganisation Ärzte der Welt sehen, wie
die Schutzsuchenden unter den Folgen des Winters leiden. «Wir haben
immer mehr Kinder und ältere Menschen mit Atemwegsinfektionen», sagt
Nikolaos Marinos, Koordinator der Organisation für Griechenland. «Für

manche ist das lebensbedrohlich, weil die Kälte Asthmaanfälle oder
schwere Lungenentzündungen mit Komplikationen hervorrufen
kann.» Allein die Zahl der Lungenentzündungen habe sich in den
vergangenen beiden Monaten verdoppelt.

Es dauerte bei Minusgraden und Schneestürmen mehrere Tage, bis die
griechische Regierung handelte: Am Mittwoch wurde ein Schiff der
Kriegsmarine nach Lesbos geschickt, um vorübergehend 500 Menschen
aufzunehmen. An Bord: Heizlüfter, warme Decken und anderes Material.
«Wieso haben sie nicht einfach eine Fähre geschickt?», fragt ein
griechischer Helfer. «Ist denen nicht klar, dass wir hier viele
traumatisierte Menschen haben, die lieber erfrieren würden, als auf
ein Kriegsschiff zu steigen? Nicht zuletzt, weil sie Angst haben,
dass man sie damit zurück in die Türkei bringt?»

Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in
Deutschland, macht den Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei
für das Elend verantwortlich. «Wegen dieses Deals sitzen jetzt mehr
als 15 000 Menschen in den doppelt überbelegten EU-Hotspots auf den
griechischen Inseln in der Kälte fest.» Seine Kollegin Sophie de
Vries erlebt, wie sehr die Flüchtlinge und Migranten unter der
monatelangen Warterei leiden, vor allem auch psychisch. «Die
Bearbeitung der Anträge geht nur sehr langsam voran. Die Menschen
verlieren die Hoffnung, Frust und Aggression steigen.»

Nicht nur auf den Inseln, auch in anderen Flüchtlingslagern des
Landes sind die Zustände schlecht. Was bislang für diese Menschen
getan wurde, sei bei weitem nicht genug, sagt François de
Keersmaeker, Direktor von Ärzte der Welt in Deutschland.
«Griechenland ist mitten in einer Wirtschaftskrise. Wir können von
diesem Land nicht erwarten, allein mit dem Problem fertig zu werden,
während andere europäische Länder keine Flüchtlinge aufnehmen.»
Ursprünglich war zwischen den EU-Staaten vereinbart worden,
Griechenland im vergangenen Jahr 30 000 Flüchtlinge abzunehmen.
Tatsächlich reisten nur 5500 ab.