Kühle Strategin oder Zauderin? - Theresa May ein halbes Jahr im Amt Von Christoph Meyer, dpa

12.01.2017 18:14

Die britische Premierministerin wurde bereits mit ihrer berühmten
Vorgängerin Margaret Thatcher verglichen. Doch bislang gehört
entschlossenes Handeln noch nicht zu ihren Tugenden. Beobachter
fragen sich, ob dahinter Kalkül steckt oder nur Ratlosigkeit.

London (dpa) - Als Theresa May wenige Wochen nach dem Brexit-Votum
der Briten von ihrer Fraktion zur Premierministerin gewählt wurde,
beeindruckte die konservative Politikerin mit ihrer demonstrativen
Entschlossenheit. «Brexit heißt Brexit. Und wir machen einen Erfolg
daraus», sagte sie damals, Mitte Juli, zum geplanten EU-Austritt
ihres Landes. Schon war von einer zweiten Margaret Thatcher die Rede.

Doch ein halbes Jahr nach ihrer Wahl wird die 60-Jährige mehr und
mehr als Zauderin wahrgenommen. Kürzlich erschien ein Porträtfoto der
Premierministerin auf dem Titelblatt des Magazins «Economist».
Überschrieben war es mit «Theresa Maybe» - «Theresa Vielleicht».


Denn trotz markiger Sprüche, die sie unermüdlich wiederholt, ist Mays
Botschaft mehrdeutig. Einerseits verspricht sie, die Einwanderung aus
der EU zu reduzieren, auf der anderen Seite will sie den
bestmöglichen Zugang für Waren und Dienstleistungen in den
Binnenmarkt herausholen. Beides wird sie aber nicht bekommen, das
haben EU-Politiker immer wieder klargemacht.

Beobachter fragen sich: Steckt hinter Mays unklarem Kurs eine
Strategie? Oder ist es schlicht Ratlosigkeit?

Darüber scheint nicht einmal in den höchsten Rängen der Verwaltung
Gewissheit zu herrschen. Als der britische Chefdiplomat bei der EU,
Ivan Rogers, kürzlich entnervt hinwarf, schrieb er in einer E-Mail an
seine Mitarbeiter: «Wir wissen noch nicht, was die Regierung als
Verhandlungsziele für die Beziehung Großbritanniens mit der EU nach
dem Austritt festlegt.» Eine schallende Ohrfeige für May.

Spätestens Ende März will sie die Austrittserklärung nach Brüssel
schicken. Ob das gelingt, hängt nicht zuletzt von einem Urteil des
höchsten britischen Gerichts ab, mit dem noch im Januar gerechnet
wird. Das soll entscheiden, ob May zunächst das Parlament befragen
muss. Wann das Urteil genau kommt, ist ungewiss. Nur mit drei Tagen
Vorlauf will das Gericht ankündigen, wann die Entscheidung bekannt
gemacht wird.

Ihre scheinbare Unentschlossenheit scheint der Premierministerin
zumindest bislang größeren Krach am Kabinettstisch zu ersparen. Denn
die Regierung ist in der Brexit-Frage gespalten. Auf der einen Seite
steht Schatzkanzler Philip Hammond. Er gilt als vehementer Vertreter
eines «weichen Brexits», der den Zugang zum Binnenmarkt über die
Begrenzung der EU-Einwanderer stellt. Auf der anderen Seite steht das
Brexit-Trio: Außenminister Boris Johnson, Brexit-Minister David Davis
und Handelsminister Liam Fox. Ihr spezielles Problem: Sie sind sich
untereinander alles andere als grün.

Auch die britische Wirtschaft hat bisher eher von Mays Versteckspiel
profitiert. Weil noch niemand sagen kann, ob Großbritannien
tatsächlich aus dem Binnenmarkt ausscheiden wird, gab es bislang
keine größeren Verwerfungen. Je länger dieser Zustand der Starre
anhält, desto eher können die Brexit-Befürworter die Öffentlichkeit

davon überzeugen, dass alle Warnungen vor einem wirtschaftlichen
Schock Panikmache waren. Dass der Brexit noch gar nicht begonnen hat,
verschweigen sie geflissentlich.

Glück hat May auch in einem anderen Punkt: Die oppositionelle
Labour-Partei ist seit der letzten Parlamentswahl nur noch mit sich
selbst beschäftigt. Labour-Chef Jeremy Corbyn weiß nur einen kleinen
Teil der Fraktion hinter sich und hat nur sehr zurückhaltend für den
Verbleib in der EU geworben. Von dieser Seite droht May kaum Gefahr.
Selbst wenn das höchste britische Gericht entscheiden sollte, dass
das Parlament der Austrittserklärung zustimmen muss.

Die für May gefährlichen Gegner sitzen in den eigenen Reihen. Ihre
verwundbarste Stelle: Sie selbst hat kein Mandat der Wähler und
regiert nur mit einer knappen Mehrheit. Und obwohl die
Premierministerin stets dementiert, wollen die Spekulationen über
eine vorgezogene Wahl nicht enden.

Die Frage ist, wie lange sich die Briten die Hängepartie noch
anschauen wollen. Am kommenden Dienstag will May eine grundsätzliche
Rede zum Brexit halten. Doch ob sie dann endlich anfängt, Klartext zu
reden, ist zweifelhaft.