Nur nicht stehenbleiben: Merkels nüchterner Blick auf Europa Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

12.01.2017 18:21

Die Bundeskanzlerin wird in Brüssel geehrt für ihre Verdienste um die
Stärkung Europas. Ihre Anhänger inspiriert sie zu Pathos - ihre
Gegner aber nur zu bitteren Parolen.

Brüssel (dpa) - Nick ist sich sicher, dass Angela Merkel Europa
zerstört. So sagt es der Mann in der Militärjacke jedenfalls, als er
am Donnerstag mit ein paar versprengten Rechten vor dem
Veranstaltungszentrum «The Egg» im Brüsseler Stadtteil Anderlecht
demonstriert. «Merkel muss weg», steht auf ihren Plakaten, und:
«Merkel nicht willkommen».

Es ist eine jener Veranstaltungen, die zeigen, wie bitter zerstritten
Europa derzeit ist. Drinnen in dem - übrigens sehr rechtwinkligen -
Veranstaltungssaal des «Ei» bekommt die deutsche Bundeskanzlerin die
gemeinsame Ehrendoktorwürde der beiden renommierten belgischen
Universitäten Gent und Löwen und referiert zur weiteren Entwicklung
Europas - erstens, zweitens, drittens. Draußen brüllen ihre Kritiker
auf flämisch unfreundliche Parolen in die Megafone. «Sie ist schlecht
für Europa», raunt eine Frau einsilbig über die Polizeibarriere.

Es ist Merkels «Wir schaffen das», das die Demonstranten verdammen -
«wir schaffen das nicht», sagt Nick sogar auf deutsch. Und es ist
eben dieses «Wir schaffen das», das die Rektoren der beiden
Universitäten zu einer euphorischen Laudatio auf «eine der
berühmtesten und einflussreichsten Menschen der Welt» inspiriert.

Sie wissen, wie umstritten Merkels Leitsatz aus der großen
Flüchtlingskrise ist. «Diese drei Worte haben eine der lautesten
Debatten ausgelöst, die dieser Kontinent je erlebt hat», sagt Anne De
Paepe von der Universität Gent. Aber ihr Kollege Rik Torfs von der
Katholischen Universität Löwen macht klar, welche Schlussfolgerung
die Laudatoren daraus ziehen: Die Worte «zeigen eine klare, einfache
Hinwendung zum Guten», attestiert er Merkel. «Wir schaffen das. Das
ist es, was Sie zu einem Vorbild macht.» Und er fügt hinzu: «Eine
Welt ohne Vorbilder wird verrückt.»

Das Pathos scheint dann doch etwas viel für die Bundeskanzlerin, als
sie auf der Bühne des «Ei» steht, übrigens in einem eigens für di
esen
Anlass entworfenen Talar, denn für die beiden Unis ist diese
gemeinsame Verleihung beispiellos. Merkel jedenfalls holt in ihrer
Dankesrede rasch den europäischen Alltag in diese graue Ecke von
Brüssel zurück.

«Was in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, daraus kann man
auch Kraft schöpfen», sagt die Kanzlerin und nennt die Reisefreiheit,
die gemeinsame Währung, Auslandsstudium. Aber nur bewahren, das
reiche nicht, denn das «kann zu oft auch Stillstand bedeuten». Europa
müsse voranschreiten. «Die Welt um uns entwickelt sich weiter, da
kann Europa nicht stehenbleiben.»

Auf halber Strecke durch ihre nüchterne Rede lässt auch Merkel kurz
erkennen, dass sie eine historische Wegmarke sieht: «Europa steht vor
den größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte.» Doch im
Lösungsansatz bleibt sich die seit 2005 regierende Kanzlerin treu:
kleine Schritte, immer ein Fuß vor den anderen.

Fünf Punkte nennt sie: Man müsse aufhören, immer mit dem Finger auf
Brüssel zu zeigen; sich auf Themen konzentrieren, die auf EU-Ebene
besser gelöst werden könnten als national; schneller entscheiden; zu
Entscheidungen stehen; Verpflichtungen einhalten. Und dann folgen
ihre drei europäischen Kernthemen: erstens Flüchtlingskrise, zweitens
Anti-Terror-Kampf, drittens Verteidigungspolitik. Hier zeige sich der
Mehrwert gemeinsamen Handelns, meint Merkel. «Nur wenn Europa geeint
und mit einer Stimme spricht, werden wir uns Gehör verschaffen.»

Der Wutbürger Nick ist von diesem geeinten Europa so weit entfernt
wie von den Honorationen im Saal. Vielleicht ist er mit seinen Leuten
auch schon nach Hause gegangen.