Gleichung mit 7 Unbekannten: Wer EU-Parlamentspräsident werden will

17.01.2017 05:00

Straßburg (dpa) - Erstmals in der jüngeren Geschichte des
EU-Parlaments ist die Wahl seines Präsidenten völlig offen - die
Fraktionen gehen offiziell ohne Absprachen ins Rennen um die
Nachfolge des SPD-Politikers Martin Schulz am Dienstag. Fast alle
Gruppen haben eigene Kandidaten. Die bisher bekannten Bewerber:

- Antonio Tajani, Europäische Volkspartei (EVP, 217 Abgeordnete): Der
63 Jahre alte Jurist aus Rom gehört der konservativen Forza Italia
von Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi an und war einst dessen
Pressesprecher. Tajani sitzt seit 1994 im Europaparlament und ist
seit 2014 einer der 14 Vizepräsidenten. Zwischendurch war er zweimal
EU-Kommissar. Aus dieser Zeit hängen im Fragen nach, ob er zu
nachsichtig mit der Autoindustrie und deren Erfüllung von
Abgasstandards war. Für den Fall seiner Wahl verspricht er, ein
unpolitischer Präsident und Repräsentant des gesamten Parlaments zu
werden.

- Gianni Pittella, Sozialdemokraten (S&D, 189 Abgeordnete): Der
58-jährige Mediziner stammt ebenfalls aus Italien, und auch er ist
Veteran der EU-Politik. Von 1999 bis 2014 war er Vizepräsident des
Europaparlaments, danach Fraktionschef der Sozialdemokraten. In der
Funktion stand er im Schatten des sozialdemokratischen
Parlamentschefs Schulz, der auf enge Zusammenarbeit mit der EVP
setzte. Diese informelle große Koalition hat Pittella für beendet
erklärt und die Fühler nach links ausgestreckt. Der Sparpolitik in
Europa sagt er den Kampf an. Pittella zur Rolle als künftiger
Präsident: «Ich werde nicht nur stark sein, ich werde sehr stark
sein. Ich werde extrem stark sein.»

- Helga Stevens, Konservative (EKR, 74 Abgeordnete): Die 48-jährige
Belgierin sitzt erst seit 2014 für die flämische Partei N-VA im
Europaparlament, wurde dann aber gleich Vizechefin ihrer
Konservativen und im Oktober 2016 Präsidentschaftskandidatin. Als
solche tritt die an der US-Universität Berkeley ausgebildete Juristin
selbstbewusst auf: «Die EU wurde bisher von einem Old-Boys-Network
geführt, wir brauchen einen neuen Plan», sagte sie zu ihrer
Kandidatur. «Ich kann Brücken bauen.» Stevens verständigt sich in
Gebärdensprache, denn sie ist von Geburt an taub.

- Guy Verhofstadt, Liberale (Alde, 68 Abgeordnete): Auch Verhofstadt
ist Belgier und war von 1999 bis 2008 Ministerpräsident des
EU-Gründungsstaats. Ein Jahr später kam er ins Europaparlament. Dort
gilt der heute 63-Jährige als eine Art Supereuropäer, denn schon 2006
forderte er in einem Buch die «Vereinigten Staaten von Europa». Er
ist bekannt für emotionale Ausbrüche und ironische Spitzen. Vor der
Wahl 2014 war er Spitzenkandidat der Liberalen für das Amt des
Kommissionspräsidenten. Stattdessen wurde er Fraktionschef. 2016
berief ihn das Parlament zum Brexit-Beauftragten. Zuletzt sorgte er
für Aufsehen mit der Idee, Abgeordnete der populistischen
Fünf-Sterne-Bewegung Italiens in der Liberalen-Fraktion aufzunehmen.
Es wurde nichts daraus.

- Eleonora Forenza, Linke (GUE/NGL, 52 Abgeordnete): Die 40-jährige
Literaturwissenschaftlerin aus dem italienischen Bari, die 2014 über
die Lista Tsipras ins Europaparlament kam, versteht sich als die
Alternative zu den bisher bestimmenden Männern der Mitte. Die Linke
betont ihren feministischen Ansatz, ihr klares Ziel ist eine
Überwindung der Sparpolitik in Europa. Die fünfjährige
Präsidentschaft des Deutschen Schulz, den sie als autoritär und
dominant sah, will sie abhaken: «Schulz' Erbe ist ein schreckliches
Erbe», sagte die Italienerin vor wenigen Tagen.

- Jean Lambert, Grüne (Grüne/EFA, 51 Abgeordnete): Die 66-jährige
ehemalige Lehrerin aus London vertritt die britischen Grünen seit
1999 im Europaparlament. Angesichts des Brexit erklärte sie trocken
zu ihrer Kandidatur, Karriere machen wolle sie nicht - die
Abgeordneten der Insel dürften ab 2019 nicht mehr vertreten sein. Mit
ihrer Bewerbung steht sie nach eigenen Worten für Menschenrechte,
Demokratie, Umweltschutz und Solidarität. «Es ist Zeit für einen
Wechsel», sagt sie.

- Laurentiu Rebega, Rechte (ENF, 40 Abgeordnete): Der rumänische
Abgeordnete kam 2014 ins Parlament und gehörte ursprünglich der
sozialdemokratischen Fraktion an, wechselte aber 2015 zur Gruppe der
Rechten um Front-National-Chefin Marine Le Pen. Von dieser
distanziert sich der 40-jährige Tierarzt und Agrarexperte in einigen
Punkten vage: «Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind.»
Über sein politisches Programm sagt er: «Ich will die EU nicht
abschaffen, aber wir brauchen eine starke nationale Identität.»