Alles anders nach Schulz: Das EU-Parlament wählt einen Präsidenten Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

16.01.2017 07:00

Um die Nachfolge für den mächtigen EU-Parlamentspräsidenten Martin
Schulz gab es in den vergangenen Wochen gehöriges Gerangel. Am
Dienstag schreiten die Abgeordneten zur Wahl.

Straßburg (dpa) - Martin Schulz geht - und bringt einiges ins Wanken.
Seit sich der deutsche EU-Parlamentspräsident im November zum Wechsel
in die Bundespolitik entschloss, sortiert sich das Brüsseler
Machtgefüge neu. Allianzen sind zerbrochen, geheime Männerbünde
aufgekündigt. Am Dienstag wird im Parlament in Straßburg ein
Nachfolger gesucht, der die Scherben kitten kann - oder eine neue
Linie findet.

Sieben Bewerber haben sich gemeldet, dem SPD-Mann nachzufolgen, der
das Haus mit 751 Abgeordneten fünf Jahre lang führte. Das Feld ist
unübersichtlich, die meisten sind nur Zählkandidaten. Doch sind
gerade die kleinen Fraktionen euphorisch. Erstmals in ihrer ganzen
Zeit im Parlament gebe es eine demokratische Wahl ohne Absprachen,
sagt Gabi Zimmer, die deutsche Chefin der Linksfraktion.

Dazu muss man wissen, dass die großen Mitte-Parteien - die
Christdemokraten und die Sozialdemokraten - sich im EU-Parlament
traditionell gegenseitig Mehrheiten sichern. Abmachungen sollen
zumindest bei den Personalien etwas Stabilität in das sehr
kleinteilige Gespinst einer Vielzahl von Fraktionen und Gruppierungen
aus 28 EU-Mitgliedsländern bringen. Entstanden ist daraus ein
hochkomplexes Vergabesystem, bei dem nach Punkten die Posten von
Präsident, Vizepräsidenten, Fraktionschefs und Ausschussvorsitzenden
gegeneinander abgewogen und besetzt werden.

2014 setzte Schulz mit dem christsozialen EVP-Fraktionschef Manfred
Weber in einem lange unter Verschluss gehaltenen Papier noch eins
drauf: Die Europäische Volkspartei sollte Schulz noch einmal als
Präsident mitwählen und bekam dafür als größte Fraktion die Beset
zung
des Spitzenpostens Anfang 2017 zugesagt - also jetzt.

Nur fühlen sich die Sozialdemokraten mit Schulz' Abgang daran nicht
mehr gebunden, mit dem Argument, sonst würden alle drei
EU-Institutionen - Rat, Kommission und Parlament - von Konservativen
in Beschlag genommen. Fraktionschef Gianni Pittella hat mit Verve die
informelle große Koalition aufgekündigt, die Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker seit 2014 Mehrheiten sicherte. Damit ist der
Ausgang der Präsidentenwahl offen.

Auf dem Papier die besten Chancen hat EVP-Kandidat Antonio Tajani aus
Italien. Seine Fraktion ist mit 217 Mitgliedern die größte, und
Tajani bringt als langjähriger EU-Kommissar und derzeitiger
Parlaments-Vizepräsident Erfahrung mit. Allerdings ist er als
Gefolgsmann des ehemaligen italienischen Regierungschefs Silvio
Berlusconi auch umstritten. Selbst wenn die EVP geschlossen hinter
ihrem Kandidaten steht, ist er von einer eigenen Mehrheit weit
entfernt.

Das gilt auch für Tajanis italienischen Landsmann Pittella, der für
die 189 Sozialdemokraten ins Rennen geht - und noch viel mehr für
alle anderen Kandidaten, die jeweils nur ein paar Dutzend Abgeordnete
hinter sich haben. Sie dürften nach den ersten Wahlgängen
ausscheiden. Dann geht es für die Favoriten darum, wer Unterstützer
aus anderen Fraktionen gewinnt - spätestens im vierten Wahlgang, wenn
nur noch die beiden Bestplatzierten konkurrieren und eine einfache
Mehrheit reicht. Spekuliert wird auch über Außenseiterchancen des
Liberalen Guy Verhofstadt oder einen Überraschungskandidaten.

Vorab ließen sich die Kleinen nicht in die Karten schauen. «Bisher
hat uns kein anderer Kandidat überzeugt», sagte
Grünen-Fraktionschefin Ska Keller der dpa. «Wir werden zwischen den
einzelnen Wahlgängen immer wieder neu beraten.» Auch sie zeigt sich
zufrieden, «dass die Wahl des Präsidenten diesmal nicht hinter
verschlossenen Türen ausgekungelt wurde». Und das Ende der großen
Koalition hält sie für eine gute Nachricht. «Auseinandersetzungen in

der Politik sind normal; auch im Europäischen Parlament wird nicht
gekuschelt.»

Kommissionspräsident Juncker, der vergangenes Jahr ungewöhnlich offen
für ein Bleiben seines Freundes Schulz warb, sorgt sich um die
Stabilität. Muss er in einem widerspenstigen Parlament um Mehrheiten
kämpfen, macht ihm das in der tiefen Krise der Europäischen Union das
Leben noch schwerer.

Andere sehen den Bruch nach Schulz positiv, wie der ehemalige
Abgeordnete Andrew Duff. «Sowohl die Juncker-Kommission als auch der
Europäische Rat unter (Donald) Tusk haben eine schärfere
parlamentarische Kontrolle verdient, als es unter Schulz der Fall
war», meint Duff, der jetzt am European Policy Centre forscht. «Das
Europäische Parlament kann die Union retten oder kaputt machen. Wer
es führt, ist enorm wichtig.»