Was heißt der Brexit für Normalbürger? Zehn Punkte, die alle angehen Von Verena Schmitt-Roschmann und Silvia Kusidlo, dpa

17.01.2017 15:51

Die EU bestimmt mit einheitlichen Regeln das Leben von einer halben
Milliarde Menschen in 28 Staaten. Die Briten wollen künftig ihr
eigenes Ding machen. Doch was heißt es, wenn einer aus dem Boot
aussteigt?

London/Brüssel (dpa) - Mehr als ein halbes Jahr nach dem Votum der
Briten für einen EU-Austritt hat Regierungschefin Theresa May am
Dienstag erstmals genauer gesagt, wie sie sich den Brexit vorstellt.
Wichtigste Botschaft: Das Vereinigte Königreich wird nicht mehr
Vollmitglied des europäischen Binnenmarkts sein. Was kommt da auf die
Europäer dies- und jenseits des Ärmelkanals zu? Letztlich wird das
erst in Verhandlungen zwischen London und Brüssel bis 2019 geklärt.
Aber sicher ist: Diese Scheidung berührt fast jeden in Europa.

1. Dürfen Deutsche auch künftig in Großbritannien arbeiten?

Der nach den EU-Regeln erlaubte freie Zuzug aus allen Ländern der
Gemeinschaft war für viele Briten der Hauptgrund, für den Brexit zu
stimmen. May will der Freizügigkeit ein Ende setzen. Die übrigen 27
EU-Länder halten dagegen, das Prinzip gehöre untrennbar zum
Binnenmarkt. Daraus ergibt sich logisch, was May jetzt beschrieb: der
Abschied vom EU-Binnenmarkt und dessen Vorteilen, also auch vom
freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen. Dafür will London
künftig selbst bestimmen, wer unter welchen Bedingungen zum Arbeiten
auf die Insel kommen darf. Deutsche Fachleute dürften es noch relativ
leicht haben, Niedriglöhner eher nicht.

2. Werden EU-Bürger aus Großbritannien ausgewiesen?

2015 lebten nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat 2,99 Millionen
EU-Bürger im Vereinigten Königreich, darunter 870 000 Polen. Eine
Ausweisung ist nach einer Analyse des britischen Oberhauses wegen der
Europäischen Menschenrechtskonvention ausgeschlossen, das gilt
umgekehrt auch für die mehr als eine Million Briten in anderen
EU-Ländern, darunter knapp 300 000 im sonnigen Spanien. Trotzdem sind
die mehr als vier Millionen Menschen verunsichert. Ihre Rechte wolle
man, so sagte May, so bald wie möglich garantieren, offenbar in einer
Verhandlungslösung auf Gegenseitigkeit. Auch für die EU hat dies
Priorität. Es geht um Rechte wie Aufenthalt, Arbeitserlaubnis,
Besitzrechte an Immobilien und vieles mehr.

3. Kann man als Deutscher nach dem Brexit in London studieren?

Forscher und Studenten könnten unter dem Brexit stark leiden. Fast
jeder siebte Beschäftigte im Wissenschaftsbetrieb in Großbritannien
stammt aus dem EU-Ausland. Studenten dürfen mit dem
«Erasmus+»-Programm ohne Studiengebühren an britische Hochschulen,
was 2015 nach Angaben des Akademischen Austauschdiensts allein rund
5000 Deutsche nutzten. Auch Briten studieren mit dem Programm in
Deutschland. Nach dem Brexit könnte das anders werden. Es ließe sich
aber auch aushandeln, dass Großbritannien Teil von Erasmus bleibt.

4. Müssen deutsche Steuerzahler bald mehr für Brüssel zahlen?

Eines der dicksten Bretter bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen
ist die Trennung der EU-Finanzen. Großbritannien ist nach Deutschland
der größte Nettozahler der Gemeinschaft: 2015 überwies das Königrei
ch
11,5 Milliarden Euro mehr in die EU-Töpfe, als es herausbekam. Für
die Bundesrepublik waren es 14,3 Milliarden Euro. Fällt der britische
Beitrag weg, muss das benötigte Geld anders aufgebracht werden -
vermutlich zum Teil vom bevölkerungsreichsten und
wirtschaftsstärksten Mitgliedsland Deutschland. May sagte, mit den
«immensen Beiträgen» sei nach dem Brexit Schluss, sie schloss aber
«angemessene» Zahlungen nicht kategorisch aus.

5. Machen Zölle saure Drops bald unerschwinglich?

Die EU ist auch eine Zollunion: In der Gemeinschaft fallen keine
Zölle an und gegenüber anderen Weltregionen legt sie die
Einfuhrabgaben gemeinsam fest. Die britische Regierung will aber die
Handelsbeziehungen mit Dritten - unter anderem mit den USA - selbst
regeln. Dazu müsste sie raus aus der Zollunion. May stellte klar,
dass sie keine Zölle im Warenverkehr mit der EU will. Sie hofft auf
eine Einigung mit Brüssel. Sonst könnten britische Waren auf dem
Kontinent teurer werden - und umgekehrt.

6. Müssen Arbeiter bei Daimler um ihren Job bangen?

Deutschland hat zuletzt Waren für fast 89 Milliarden Euro nach
Großbritannien exportiert und für 38 Milliarden Euro von dort
importiert. Beim Im- und Export stehen Autos und Fahrzeugteile ganz
oben. Jede zweite Neuzulassung in Großbritannien war 2015 ein Auto
deutscher Marken. Der Verband der Automobilindustrie sieht den
Abschied Großbritanniens aus dem Binnenmarkt deshalb mit Sorge. Doch
stellt May ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU in Aussicht
- und rechnet damit, dass diese für beide Seiten «wirtschaftlich
rationale» Option sich durchsetze. Am Verhandlungstisch wird das eine
harte Nuss.

7. Können Deutsche bald billiger Urlaub machen?

Das schwächelnde Pfund macht Reisen in Großbritannien billiger als
früher. Der Branchenverband British Hospitality Association gibt sich
angesichts der vielen ausländischen Touristen im Land zuversichtlich.
Falls die Briten künftig genauer aufs Geld schauen müssen, verbringen
viele möglicherweise ihren Urlaub lieber in der Heimat, statt wie
bisher vorzugsweise auf den Balearen und Kanaren, in Griechenland,
der Türkei und der Karibik. Im Umkehrschluss heißt das möglicherweise

günstigere Angebote für alle anderen Urlauber, weil die Veranstalter
ihre Betten nicht mehr so einfach voll bekommen.

8. Werden Häuser im Taunus noch teurer?

Die britische Finanzwirtschaft warb vor dem Brexit-Votum dringend für
einen Verbleib in der EU und fürchtet jetzt um den ungehinderten
Zugang für ihre Dienstleistungen auf dem Kontinent. Auch hier will
May einen Deal mit der EU. Doch wird auch über einen Abzug von
Finanzdienstleistern etwa nach Frankfurt spekuliert. «Mainhattan»
würde wirtschaftlich profitieren. Der Zuzug von Spitzenverdienern
könnte aber zum Beispiel auch bedeuten, dass Verkäufer und Vermieter
von Häusern und Wohnungen noch mehr verlangen können.

9. Wird Fisch auf deutschen Tellern knapp?

Der Deutsche Hochseefischerei-Verband fürchtet «fatale Folgen», wenn

Großbritannien nach dem Brexit den EU-Staaten die Einfahrt in seine
200-Seemeilen-Zone verwehrt. Dort werden 100 Prozent der deutschen
Heringsquote für die Nordsee - insgesamt 55 000 Tonnen - gefangen,
zudem ein erheblicher Teil Makrele und Blauer Wittling. Fehlt die
Menge, könnte deutscher Fisch für Verbraucher teurer werden. Der
Verband hofft auf Vereinbarungen wie mit Norwegen: Wenn deutsche
Fischer in norwegischen Gewässern fangen, dürfen ihre norwegischen
Kollegen entsprechend in deutschen Gewässern Netze auswerfen.

10. Kann man sich Telefonieren beim London-Trip noch leisten?

Die EU hat in den vergangenen Jahrzehnten Tausende von einheitlichen
Regeln eingeführt, viele zum Verbraucherschutz. Vorgaben für Geräte
und Lampen sollen Energie sparen helfen, Grenzwerte für Gifte und
Chemikalien Krebs bremsen, die Senkung von Roaming-Gebühren soll
Reisenden sorgenfreies Telefonieren und Surfen im EU-Ausland
ermöglichen. Schafft Großbritannien die EU-Standards ab und macht
eigene? Erstmal nicht, sagte May. Der Bestand des EU-Rechts - der
sogenannte Acquis - werde mit dem Brexit in britisches Recht
überführt. Danach lägen etwaige Änderungen beim Parlament.