EU-Urteil lässt Frauen im Brustimplantat-Skandal weiter bangen Von Violetta Kuhn, dpa

16.02.2017 17:31

Der Betrug mit minderwertigen Brustimplantaten ist für
Hunderttausende Frauen eine Geschichte des Grauens. Schadenersatz
haben die wenigsten von ihnen bekommen. EU-Richter haben jetzt über
ihre womöglich letzte Chance geurteilt.

Luxemburg (dpa) - Die Brustimplantate haben ihr Leben zerstört -
davon ist die 49-jährige Deutsche überzeugt. Kaum habe sie die Kissen
des französischen Herstellers Poly Implant Prothèse (PIP) einsetzen
lassen, sei es mit ihrer Gesundheit bergab gegangen, sagt sie.
Muskelprobleme, erhöhte Tumorwerte und schließlich: Depressionen.
Heute ist sie arbeitslos, ihr Erspartes sei futsch.

Auf das Urteil, das der Europäische Gerichtshof am Donnerstag
gesprochen hat, haben die 49-Jährige und ihre Leidensgenossinnen mit
Spannung gewartet. Zehntausende Frauen ließen sich die extrem
reißanfälligen und oft undichten Brustimplantate schließlich wieder
entnehmen. Einigen setzte das Ganze so zu, dass sie lieber ohne Busen
weiterlebten, als sich erneut Implantate einsetzen zu lassen.

Viele von diesen Frauen sind am Donnerstag vom neuen Richterspruch
enttäuscht. «Mein Glaube ins Rechtssystem ist völlig verloren
gegangen. Ich hätte mir gewünscht, dass der TÜV zur Rechenschaft
gezogen wird», sagt die 49-Jährige, die sich nach dem Urteil am
Telefon äußert.

Doch das bleibt auch nach der EuGH-Entscheidung unklar, ob der TÜV
Rheinland im Skandal um die PIP-Implantate Schmerzensgeld zahlen
muss.

Der Prüfverein hatte das Qualitätssicherungssystem von PIP
zertifiziert und überwacht, nach eigenen Angaben aber nie Hinweise
darauf gefunden, dass die Firma über Jahre minderwertiges Silikon in
die Kissen füllte. Beim mittlerweile insolventen Unternehmen PIP
selbst ist kein Geld mehr zu holen, daher richten sich die Hoffnungen
der Klägerinnen auf den TÜV.

Der EuGH hat nun in weiten Teilen der Argumentation vieler von ihnen
widersprochen. Die Anwälte der Frauen warfen dem TÜV Rheinland vor
Gericht oft vor, keine unangekündigten Inspektionen bei PIP
durchgeführt und auch die Implantate selbst nicht geprüft zu haben.
Sonst wäre der Pfusch mit dem Billig-Silikon sofort aufgeflogen,
meinen die Juristen.

Auch in der Klage, die hinter dem EuGH-Urteil steckt, machte die
Anwältin diese Punkte geltend. In dem konkreten Fall forderte eine
Betroffene aus der Vorderpfalz am Bundesgerichtshof 40 000 Euro
Schmerzensgeld vom TÜV Rheinland. Der BGH gab den Fall zur Klärung
europarechtlicher Fragen an die EU-Richter weiter.

Die entschieden nun, dass Überraschungsbesuche in den Betriebsstätten
und Produktprüfungen nicht verpflichtend sind. Nur wenn Hinweise
darauf vorliegen, dass ein Medizinprodukt die vorgeschriebenen
Anforderungen nicht erfüllt, müssten «alle erforderlichen Maßnahmen
»
ergriffen werden.

Der TÜV Rheinland gibt sich entspannt: «Wir sind sehr zufrieden mit
dem Urteil und sehen uns in den entscheidenden Punkten bestätigt.» In
dem Skandal sei der Verein selbst Opfer. PIP habe ihn im großen Stil
betrogen, heißt es in einer Stellungnahme. Das Unternehmen habe in
seinen Unterlagen verschleiert, dass minderwertiges Silikon zum
Einsatz gekommen sei. Bei den Überwachungsmaßnahmen habe der
TÜV Rheinland sich stets an die gesetzlichen Bestimmungen gehalten.
Überraschungsbesuche und Produkttests seien nicht vorgeschrieben.

In einem anderen Punkt macht der EuGH den Frauen aber wieder
Hoffnung: Der EuGH schließt nicht aus, dass Prüfstellen von
Medizinprodukten - wie der TÜV - unter bestimmten Bedingungen
gegenüber Patienten haftbar sein können. Das war bislang strittig.
Hätten die Richter diese Haftung grundsätzlich verneint, wären im
PIP-Skandal Klagen von Frauen gegen den TÜV automatisch zum Scheitern
verurteilt gewesen.

Ob der TÜV wirklich Pflichten verletzt hat und damit haften kann,
müssen nationale Gerichten entscheiden. Das Tauziehen geht also
weiter. Der Anwalt Christian Zierhut, der fast 100 betroffene Frauen
in Deutschland vor Gericht vertritt, sagt: Man müsse jetzt beweisen,
dass dem TÜV Hinweise auf Mängel in den Implantaten vorgelegen
hätten.

Für die Betroffenen heißt es weiter bangen. Rund 20 000 Frauen haben
in Frankreich im Januar einen Teilsieg erstritten: Der TÜV wurde in
einer Sammelklage zu Schadenersatzzahlungen in Höhe von rund 60
Millionen Euro verurteilt. Der Verein legte umgehend Rechtsmittel
ein.

Die 49-Jährige aus Deutschland nimmt aus all diesen Erfahrungen eine
Gewissheit mit: Nach Meinung der Frau werden Medizinprodukte in der
Bundesrepublik zu lax geprüft. Sie habe sich zwar nach ihrem
Martyrium neue Implantate einsetzen lassen, aber die seien von
amerikanischen Behörden für den Markt zugelassen worden. Darauf habe
sie bestanden.