Zum 60. Geburtstag: Wer oder was ist die EU - und was wird aus ihr? Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

23.03.2017 06:00

Am 25. März vor 60 Jahren wurden in Rom die Gründungsverträge der
Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet. Diesen Samstag begeht die
EU das mit einem Sondergipfel. Aber was gibt es eigentlich zu feiern?

Brüssel (dpa) - Es begann im sagenhaften Prunk des Saals der Horatier
und Curiatier im Konservatorenpalast in Rom - und führte in den
Brüsseler Beton. Die Herren im dunklen Anzug, die am 25. März 1957
auf dem Kapitolshügel die Römischen Verträge zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaften zeichneten, hätten sich wohl kaum träumen

lassen, was daraus in 60 Jahren wurde: ein Gebilde mit 28 Staaten und
einer halben Milliarde Menschen, mit 44 000 Bediensteten und
Zehntausenden Regeln, mit hochfliegenden Ambitionen auf Frieden,
Freiheit und Wohlstand - und kleinteiligen Zuständigkeiten von der
Glühbirne bis zum Buntstift.

Es ist ein Riese, mit dem die kleinen Leute fremdeln. Nur gut ein
Drittel der Europäer hatte 2016 ein eindeutig positives Bild von der
EU oder Vertrauen in die Institutionen. Und noch weniger Menschen
verstehen, was EU-Kommission, Rat und Parlament in Brüssel,
Straßburg, Luxemburg genau tun. Wer oder was also ist die EU? Und was
soll aus ihr werden?

Parlamentskantine, Dienstagfrüh um neun.

Bas Eickhout weiß genau, dass er seine Zuhörer leicht mal abhängt.
«Jetzt wird es kompliziert», sagt der Niederländer vorsorglich bei
Croissants und Kaffee im Abgeordnetenrestaurant des gigantischen
Parlamentskomplexes an der Brüsseler Rue Wiertz. Der
Grünen-Abgeordnete plagt sich mit einer Reform des Europäischen
Emissionshandels, der eigentlich helfen soll, das Klima zu retten,
aber nie wirklich funktionierte. Es geht um CO2-Zertifikate und
Zementwerke, um «carbon leakage» und den «cross sectoral correction
factor». Eickhout wirkt beseelt.

Die Wortungetüme verpackt der 40-Jährige mit Charme, hinter den
Brillengläsern blitzt der Schalk. Er dürfte unter den 500 Millionen
Europäern einer von vielleicht 500 sein, die das nebulöse
Handelssystem durchdringen. Doch schon im Parlament kommt er mit
seinen grünen Ambitionen für optimalen Klimaschutz nicht durch. Die
Mehrheit will eine weichere Reform. Und die 28 EU-Mitgliedsländer im
Ministerrat eine noch windelweichere.

Jetzt hat jede Institution ihre Version - die EU-Kommission, das
Parlament und der Rat: Zeit für den «Trilog». Das heißt, alle drei

Parteien werden über Wochen oder Monate in Verhandlungsrunden
dampfgegart, bis irgendeine Art von Kompromiss steht, der das Europa
der 500 Millionen ein kleines bisschen besser macht. Vielleicht.

Es ist das normale demokratische Hin und Her, aber eben in Brüsseler
Dimensionen: langatmig, undurchsichtig und in 24 Sprachen. Auch
Erzeuropäer sind von dem zähen Prozedere entnervt. «Unser politisches

System funktioniert nicht», sagt der Fraktionschef der Liberalen im
Europaparlament, Guy Verhofstadt.

Der ehemalige belgische Regierungschef predigt eine Generalüberholung
der EU und hat dabei - für einen Mann des Parlaments nicht weiter
verwunderlich - vor allem den Rat der Mitgliedsländer und die
Kommission auf dem Kieker. Statt Rat will er eine zweite
Parlamentskammer. Und die 28-köpfige Kommission sei einfach groß. Es
gebe ja noch nicht mal genug Ressorts für je einen Kommissar pro
Mitgliedsland, witzelt Verhofstadt. Zwölf reichten auch. Die
Betroffenen sehen das naturgemäß anders.

Kommissionsgebäude Berlaymont, Dienstagnachmittag um drei.

Corina Cretu ist sicher nicht die Prominenteste der 28 Kommissare -
sie scheint irgendwie sympathisch beglückt, dass Journalisten zu
ihrem Hintergrundgespräch zur EU-Regionalpolitik gekommen sind. Dabei
ist Cretu zuständig für ein Drittel des EU-Budgets, sie ist Herrin
über die vielen Fonds, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken
sollen. Kohäsion heißt das im Jargon. Zwischen 2014 und 2020 stellt
die EU dafür 454 Milliarden Euro bereit.

Wie so viele in Brüssel verbringt die Rumänin mit der sonoren Stimme
ihre Tage im dornigen Gestrüpp verquerer Abkürzungen, zwischen ESI,
EFRE, ESF, EUSF und EFF. Aber auch sie zweifelt keinen Moment an der
Wichtigkeit ihres Tuns: «Kohäsionspolitik alleine wird Europa nicht
heilen, aber Europa wird nicht heil ohne Kohäsionspolitik», ist ihr
Credo. Cretu ist stolz auf diese riesige Umverteilungsmaschine
zwischen Gebern und Nehmern in der EU. Sie verweist auf das
verdoppelte Bruttoinlandsprodukt der ostdeutschen Bundesländer seit
1991, auf knapp eine Million geschaffene Jobs in der EU in den sieben
Jahren des Förderzeitraums 2007 bis 2013, auf die politische Mission:
«Für mich gibt es keinen besseren Ausdruck der EU-Solidarität.»

Doch trotz dieser Politik bleibt das wirtschaftliche Gefälle in der
EU erschreckend groß. Die Luxemburger kommen nach Zahlen der
Bundesregierung auf ein jährliches Bruttoinlandsprodukt von 81 000
Euro pro Kopf, während die Bulgaren gerade mal 5500 Euro pro Kopf
erwirtschaften. Seit den letzten großen EU-Erweiterungsrunden 2004
und 2007 sitzen hier einfach sehr ungleiche Kumpane in einem Boot,
und nach der Finanz- und Eurokrise schaukelt die Jolle weiter
gewaltig.

Bei aller von EU-Kritikern unterstellten Machtfülle - um das ganz
große Rad zu drehen, fehlen Brüssel oft die Hebel. Selbst
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der 2014 mit großen
Ambitionen antrat, zeigt immer häufiger seinen Frust, dass die EU
manchmal so ohnmächtig erscheint. Mit vielen im Parlament ist er sich
einig, woran es liegt: Die Mitgliedsländer sind es, die den Laden
aufhalten und in Brüssel erst Dinge mitbeschließen, von denen sie
dann zuhause nichts mehr wissen wollen.

Ratsgebäude Justus Lipsius, Freitagnachmittag um zwei.

Es ist das Ende des Frühjahrsgipfels der EU-Staats- und
Regierungschefs und Bundeskanzlerin Angela Merkel zieht Bilanz im
Brüsseler Ratsgebäude, wie immer. Es waren zwei Tage im Krisenmodus.
Die Polen haben den Aufstand gegen die übrigen 27 Länder geprobt. Der
Brexit droht. Populisten in den Niederlanden, Frankreich, Deutschland
wollen das Ende der EU. Und das Thema des letzten Gipfeltages - das
60. Jubiläum der Römischen Verträge und die Zukunft der EU - entzweit

die Gemeinschaft.

Merkels Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten wollen längst
nicht alle, die Osteuropäer fürchten sogar einen neuen «Eisernen
Vorhang», wie Juncker sagt - das ultimative Abgehängtsein jenseits
aller Kohäsionsfonds. Bitterkeit brodelt. Beschwichtigung ist Merkels
Antwort.

Konstruktiv habe man geredet, sagt die Kanzlerin. Ein Signal der
Geschlossenheit sei geplant beim Sondergipfel in Rom am 25. März, ein
Bekenntnis zu Binnenmarkt, Wettbewerbsfähigkeit, zum Friedenswerk der
EU. Unbegründet auch die Aufregung um die verschiedenen
Geschwindigkeiten: Das gebe es doch längst. Beim Euro oder beim
Verzicht auf Grenzkontrollen machten ja auch nicht alle mit.

Von radikalen Veränderungen wie bei einem Verhofstadt, von einem
Brüssel 2.0 ist bei Merkel nichts zu hören. Und zwar so gar nichts,
dass ein Reporter der «Sunday Times» die Kanzlerin fragt, was sich in
Europa denn überhaupt ändern werde nach den Feiern in Rom zum 60.
Geburtstag? Merkels Antwort legt nahe: eigentlich nichts. Denn bei
allen Problemen, das betont Merkel an diesem sonnigen Nachmittag, sei
die EU doch ein gelungenes Modell, «wo wirtschaftliche Stärke und
soziale Sicherheit in einem Maße verwirklicht werden, wie man das auf
der Welt selten findet».