Viele Hürden vor den Römischen Verträgen - eine Zeitzeugin erzählt Von Martina Herzog, dpa

23.03.2017 06:00

Die Ursprünge der EU liegen für viele im Nebel der Geschichte. Nicht
so für Antoinette Spaak: Die Tochter eines der Gründerväter war bei
den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen hautnah dabei.

Brüssel (dpa) - «Ein Wunder» nennt Antoinette Spaak die Entstehung
der Europäischen Union, nichts weniger. Als die Grundlagen besiegelt
wurden, war der mörderische Zweite Weltkrieg erst zwölf Jahre vorbei.
«Die sogenannten Siegerstaaten waren beinahe genauso zerstört wie die
Besiegten», erinnert sich die 88-jährige Belgierin. «Da haben sie
sich gesagt, dass es so nicht weiter geht.» Jetzt oder nie.

Wie es dazu kam, das hat die Tochter des damaligen belgischen
Außenministers Paul-Henri Spaak fast hautnah miterlebt. Unter der
Führung ihres Vaters handelten Vertreter Belgiens, der Niederlande,
Luxemburgs, Frankreichs, Italiens und Deutschlands zwei Jahre lang
die Römischen Verträge aus, die 1957 die Grundzüge der
Staatengemeinschaft etablierten.

«Es war sehr schwierig. Es gab Augenblicke, wo es beinahe gescheitert
ist», erzählt sie. Zum Beispiel, als es im Schloss von Val Duchesse
bei Brüssel um Importbedingungen für Bananen gegangen sei.
Wutschnaubend habe der sonst so sanftmütige Spaak da den
Verhandlungstisch verlassen. «Ich lasse Sie allein», habe er den
anderen noch zugeworfen, «weil Sie mir dermaßen auf die Nerven gehen,
dass ich Ihre Verhandlung nur erschweren werde mit dem Gefühl der
Empörung, das mich gerade im Griff hat.»

Für den Fall des Scheiterns drohte Spaak an, er werde auf einer
Pressekonferenz verkünden, dass «der schönste Aufschwung der
Menschheit auf Bananen ausgerutscht ist», berichtet die Tochter.

Doch Südfrüchte waren längst nicht das größte Hindernis. «Ich g
laube,
die jungen Generationen machen sich nicht bewusst, wie schwierig das
war für europäische Politiker, den Leuten zu erklären, dass man
Deutschland und Italien in die Diskussionen einbeziehen musste», sagt
Antoinette Spaak. Zu frisch war die Erinnerung an die NS-
Konzentrationslager und die furchtbaren Kriegsjahre. «Das war eine
beinahe unmögliche Mission.» Niemals werde sie das akzeptieren, habe
ihre Tante, die im Krieg den Sohn verloren habe, dem Vater
entgegengeschleudert, niemals.

Doch Paul-Henri Spaak und seinen Mitstreitern war klar, dass die
Nachkriegszeit eine seltene historische Chance zur Zusammenarbeit
bot. «Sie hatten eine solche Begeisterung, ein solches Gefühl, dass,
wenn man es nicht sofort macht, dass es dann später nicht mehr
passiert», berichtet sie. Insbesondere die Benelux-Staaten seien mit
einem «Gefühl der Dringlichkeit» an den Verhandlungstisch gekommen,
auch Deutschland und Italien sahen ihre Chance. «Blieb noch
Frankreich.» Dabei, die Franzosen im Boot zu halten, habe geholfen,
dass ihr Vater, ein französischsprachiger Belgier, dermaßen verliebt
gewesen sei in die französische Kultur.

Und der mehrfache sozialistische Premierminister und spätere
Nato-Generalsekretär Spaak sei nicht nur besessen von der Vision
eines geeinten Europa, sondern auch ein geschickter
Verhandlungsführer gewesen. «Er war sehr sensibel für die Probleme
der anderen», erzählt die Tochter. Geholfen habe auch die Herkunft
aus dem kleinen Belgien, diesem Staat mit seinen verschiedenen
Sprachgruppen und dem Sinn für Komplexität. «Er war sehr, sehr
intelligent und sehr zukunftsorientiert. Er schaffte es immer, die
Dinge als möglich einzuschätzen, als unabdingbar für künftige
Generationen.»

Was ihr Vater vom heutigen Zustand der Europäischen Union halten
würde, darüber mag die Tochter nicht spekulieren. Er ist schon vor
mehr als vier Jahrzehnten gestorben. Einen Politiker wie den
US-Präsidenten Donald Trump oder den geplanten EU-Austritt
Großbritanniens, wer hätte sich das damals schon vorstellen können.
Aber zum Zeitpunkt seines Todes 1972 sei Paul-Henri Spaak schon sehr
ungeduldig gewesen wegen der Langsamkeit der europäischen Politik.

Antoinette Spaak selbst war nicht dabei an jenem regnerischen
Märztag, als ihr Vater in Rom eine emotionale Rede hielt und für sein
Land die Römischen Verträge unterzeichnete. «Das bedauere ich immer
noch», sagt sie ein wenig wehmütig. Aber die damals 28-Jährige wollte

als junge Mutter ihre beiden Söhne nicht in Brüssel zurücklassen.
Ihre eigene politische Karriere als Vorsitzende der Regionalpartei
FDF, belgische und europäische Abgeordnete sollte erst rund fünfzehn
Jahre später beginnen.

«Aber ich erinnere mich noch gut an die Atmosphäre und an das Glück
meines Vaters», sagt Spaak. In seinem Tagebuch habe er den 25. März
1957 den «schönsten Tag seines politischen Lebens» genannt.