Will Kaczynski den «Polexit»? Warum Warschau den Alleingang riskierte Von Natalie Skrzypczak, dpa

24.03.2017 18:39

In letzter Minute lenkte die Regierung in Warschau ein: Sie steht nun
doch Seit an Seit mit den EU-Partnern zum Jubiläumsfest in Rom. Doch
mancher rätselt noch immer, was die polnische Regierung treibt.

Warschau (dpa) - Schon beim Frühjahrsgipfel der EU-Regierungschefs in
Brüssel sorgte Polen für einen Eklat. Allein auf weiter Flur
verweigerte das Land erst die Wiederwahl von EU-Ratspräsident Donald
Tusk und dann die Annahme der Gipfelbeschlüsse. Jetzt schoss die
Regierung in Warschau schon wieder quer und drohte, die Erklärung zum
60. EU-Jubiläum in Rom nicht mitzutragen. Am Freitag lenkte
Regierungschefin Beata Szydlo dann ein und kündigte ihre Zustimmung
an. Doch viele Polen sind besorgt. Sind die Warschauer Alleingänge
etwa das Vorgeplänkel zu einem «Polexit»?. Die Motive des mächtigen

PiS-Chefs Jaroslaw Kaczynski können sie sich nur schwer erklären.
Hier einige Theorien:

VERKALKULIERT: Obwohl die PiS erst Tage vor der Wahl des
EU-Ratspräsidenten einen Gegenkandidaten zu Tusk nominierte, könnte
Kaczynski tatsächlich an einen Erfolg der Offensive geglaubt haben.
Zumindest habe er nicht erwartet, dass Polen sich auf eine einsame
Mission begeben würde, sagt Aleksander Smolar, Politikwissenschaftler
und Präsident der Batory-Stiftung. Kaczynski habe auf die
Unterstützung Ungarns und Großbritanniens gezählt. Damit hätte sein
e
Partei die Amtszeitverlängerung Tusks zwar nicht verhindern,
zumindest aber dessen Position schwächen können, sagt Smolar dem
Magazin «Newsweek».

ANGST VOR KACZYNSKI: Nach einer anderen Theorie hatten hochrangige
PiS-Mitglieder Angst, ihren Chef vor dem sicheren Scheitern des Plans
zu warnen. Als Überbringer der schlechten Nachricht fürchteten sie,
Kaczynskis Ärger ausbaden zu müssen.

NIEDERLAGE NACH PLAN: Kaczynski habe seiner Innenpolitik Vorrang
gegeben und dafür den Ärger in Brüssel bewusst riskiert, wirft ihm
Ex-Parteimitglied und PiS-Mitbegründer Ludwik Dorn vor. Tusk gilt als
Kaczynskis Erzfeind - dessen mögliche Kandidatur bei der polnischen
Präsidentschaftswahl 2020 wolle der PiS-Chef um jeden Preis
verhindern. Tusks zweite Amtszeit in Brüssel endet 2019. Bis dahin
wolle ihn die PiS den polnischen Wählern «verekeln», sagt Dorn der
«Gazeta Wyborcza». Polens Schlappe beim letzen EU-Gipfel gebe
Kaczynski Anlass zu scharfer Anti-Tusk und EU-Rhetorik. Der Eklat in
Brüssel sei eine Schau für polnische Wähler gewesen, heißt es.

POLEXIT: Die Blockadehaltung Warschaus gegenüber seinen Partnern und
deren scharfe Kritik an dem Land haben viele Polen erschreckt:
Steuert die PiS etwa einen Austritt aus der Gemeinschaft an, fragen
sie sich. Medien prophezeiten eine «Scheidung mit der EU», das Cover
des Magazins «Newsweek Polska» zeigte Kaczynski mit brennender
Europaflagge. Dieser spricht von «Blödsinn», Lüge und Manipulation.


RISIKO POLEXIT: Auch Ex-Mitglieder seiner Partei bezweifeln, dass ein
Polexit» zum Plan der PiS gehört. Zu riskant sei es, sich von EU- und
Nato-Partnern zu isolieren und der russischen Bedrohung auszusetzen,
sagt der Europaabgeordnete Kazimierz Ujazdowski. Wegen des
umstrittenen Kurses der PiS verließ er zu Jahresbeginn die Partei.
Nun vermutet er: Kaczynski wolle den Krisenmoment der EU ausnutzen
und ihr seinen Willen aufdrücken.

RACHE: Kaczynskis Anti-Tusk-Offensive sei eine persönliche Fehde,
heißt es außerdem. Er habe die Wahlniederlage gegen den politischen
Rivalen aus dem liberalen Lager 2007 nicht verkraftet. Außerdem macht
Kaczynski Tusk als damaligen Ministerpräsidenten für die
Smolensk-Flugzeugkatastrophe 2010 mitverantwortlich. Er habe die
Aufklärung des Unglücks vernachlässigt, wirft er ihm vor.
Beim Absturz des Regierungsfliegers in Russland starb Kaczynskis
Bruder und Polens damaliger Präsident Lech Kaczynski. PiS-Anhänger
vermuten hinter der Katastrophe einen Anschlag, obwohl eine
Untersuchung anderes ergab.

«Zum Zwillingsbruder hat man eine sehr enge Beziehung», sagte der
PiS-Chef. «Wenn Sie ihn in Zusammenhang mit der zweifellosen
Aktivität eines Menschen verloren hätten, würden sie diesen dann
mögen?», erneuerte er im Gespräch mit der Zeitung «Rzeczpospolita
»
Vorwürfe gegen Tusk. Seine Politik werde davon aber nicht
beeinflusst, meint Kaczynski. Das sehen Experten oft anders. Sie
fordern: Polens Regierung müsse weniger Emotionen und mehr
Pragmatismus an den Tag legen und durch Kooperationsbereitschaft die
Isolation in der EU vermeiden.