EU-Kommissar: Zeit für grundlegende Türkei-Diskussion ist gekommen Interview: Ansgar Haase, dpa

19.04.2017 15:06

Die Türkei hat sich mit dem Verfassungsreferendum noch weiter von
Europa wegbewegt. Nun signalisiert selbst die EU-Kommission Offenheit
für eine Diskussion, die neuen politischen Sprengstoff birgt.

Brüssel (dpa) - Keine Sanktionen - nicht einmal ein Aussetzen der
Beitrittsverhandlungen: Das war bislang der Kurs der EU im Umgang mit
der Türkei. Nach dem Referendum deutet sich nun ein Umdenken an. Im
Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht der zuständige
EU-Kommissar Johannes Hahn (59) von einer möglichen Neubewertung der
EU-Türkei-Beziehungen.

Frage: Herr Kommissar, eine Mehrheit der Türken hat nach dem
offiziellen Referendumsergebnis für den von Präsident Recep
Tayyip Erdogan gewünschten Staatsumbau gestimmt. Was bedeutet das für

die EU?

Antwort: Der Ausgang des Referendums erfüllt uns in zweifacher
Hinsicht mit Sorge: Erstens, weil wir hinsichtlich der geplanten
Verfassungsänderungen die sehr ernsten Bedenken der
Venedig-Kommission des Europarates teilen. Zweitens, weil das
Referendum zu einer tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft
geführt hat. Wenn der Plan für die Verfassungsänderung im vollem
Umfang umgesetzt wird, bedeutet es, dass die Türkei sich noch viel
weiter von europäischen Standards entfernt als dies ohnehin der Fall
ist, besonders hinsichtlich Gewaltentrennung und unabhängige Justiz.

Frage: Bislang hat die EU nicht offen damit gedroht, die
Beitrittsverhandlungen einseitig abzubrechen. Muss diese Position
jetzt überdacht werden?

Antwort: Stand der Dinge ist, dass die Verhandlungen bereits jetzt
auf Grund der massiven Rückschritte der Türkei in den Bereichen
Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit de facto zum Erliegen gekommen
sind. Aktuell können keinen weiteren «Verhandlungskapitel» eröffnet

werden, auch wenn die große Mehrheit der EU-Staaten die Verhandlungen
nicht formell einfrieren wollte. Nach dem Referendum ist jetzt aber
die Zeit gekommen, eine grundlegende Diskussion über die
EU-Türkei-Beziehungen zu beginnen, inklusive einer möglichen
Neubewertung.

Frage: Wann könnte die Diskussion losgehen?

Ich hoffe, dass wir beim informellen Treffen der EU-Außenminister
Ende April eine erste substanzielle Debatte dazu haben werden. Ich
werde selbstverständlich meine Position als zuständiger EU-Kommissar
als Grundlage für die Gespräche einbringen. Die Verfassungsänderung
und ihre Umsetzung sind nun im Lichte der für den Kandidatenstatus
geltenden Kriterien zu bewerten.

Frage: In Deutschland und in Frankreich stehen Wahlen an. Befürchten
Sie, dass bislang auf Dialog bedachte Regierungen aus Angst vor
Türkei-Gegnern im Lager der Populisten vorschnelle falsche
Entscheidungen treffen könnten?

Antwort: Nein. Ich denke, es ist allen Verantwortlichen die
Komplexität der Situation bewusst. Es geht auch nicht nur um die
Beitrittsverhandlungen an sich. Die enge Zusammenarbeit EU-Türkei
vollzieht sich ja auf vielen Ebenen, etwa in den Bereichen Sicherheit
und Anti-Terrorbekämpfung, Syrien, Flüchtlingskrise, Wirtschaft,
Handel und Energie. Mit einem Satz: Es geht darum, wie wir unser
geopolitisch wichtiges Verhältnis neu und effizient ordnen.

Frage: Präsident Erdogan erwägt die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Gilt für die EU-Kommission weiterhin, dass ein solcher Schritt das
Aus für die Beitrittsverhandlungen bedeuten würde?

Antwort: Ja, absolut.

Frage: Abgesehen vom Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen - Welche
anderen Reaktionen sind als Antwort auf das Referendum denkbar?

Antwort: Ich möchte den Diskussionen beim Treffen der
EU-Außenminister nicht vorgreifen. Aus meiner Sicht sollte die enge
Zusammenarbeit mit der Türkei auf jeden Fall aufrechterhalten werden,
gerade weil sie ein wichtiger strategischer Nachbar ist. Geografie
ist Schicksal - übrigens für beide Seiten, denn die Türkei braucht
die EU weitaus mehr als umgekehrt. Es muss allerdings eine
realistischere Form der Beziehungen definiert werden, welche die
Interessen beider Seiten und die reellen Möglichkeiten der Türkei
berücksichtigt. Zugleich muss es weiter unser Anliegen sein, die
Menschen in der Türkei zu unterstützen, die trotz Unterdrückung der
Meinungsfreiheit mit ihrem «Nein» ein Bekenntnis zu einer gelebten
Demokratie abgegeben haben. Die Türkei ist nicht nur Erdogan.

Frage: Sie haben bereits vor Monaten damit begonnen, die im Rahmen
der Beitrittsverhandlungen vorgesehene Unterstützung für die Türkei
zurückfahren und verstärkt für Programme zur Verfügung zu stellen,

die die Zivilgesellschaft und die Demokratie-Entwicklung stärken.
Gibt es in diese Hinsicht noch weiteren Spielraum?

Antwort: Die Zahlungen, die wir im Rahmen der sogenannten
Heranführungshilfe vornehmen, sind natürlich an strikte Konditionen
gebunden. Diese werden laufend überprüft und unsere Hilfen bei Bedarf
angepasst, so etwa durch eine stärkere Fokussierung auf die
Zivilgesellschaft. Auch die Aufnahmefähigkeit in der Türkei ist ein
Problem. So wurden von den für die Periode 2014-2020 vorgesehenen
4,45 Milliarden Euro erst 167,3 Millionen Euro ausbezahlt. Auch
deshalb werden wir die Beträge wohl nach unten anpassen müssen.

Was die mancherorts geforderte Einstellung der Zahlungen betrifft, so
muss ich daran erinnern, dass diese an die Beitrittsgespräche
gekoppelt sind. Solange die Beitrittsgespräche nicht formell von den
Mitgliedsstaaten suspendiert werden, gibt es einen grundsätzlichen
Anspruch auf die Heranführungshilfe.

Frage: Internationale Wahlbeobachter haben ein vernichtendes Urteil
über das Referendum abgegeben. Was sagt die Kommission dazu?

Antwort: Angesichts des sehr kritischen ODIHR-Berichtes (OSZE-Büro
für Menschenrechte und demokratische Institutionen) und der schon
zuvor veröffentlichten Expertise der Venedig-Kommission zu den
Verfassungsänderungen wären die verantwortlichen türkischen Politiker

gut beraten, die Umsetzung genau zu überdenken und in eine Diskussion
mit allen politischen Parteien zu treten. Wir nehmen den Bericht der
Wahlbeobachtungskommission sehr ernst. Er betrifft nicht nur den
Wahlvorgang selbst, sondern auch das gesamte Umfeld mit all den
Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, dem Vorgehen gegen
die Opposition, nicht zuletzt den Ausnahmezustand selbst, wodurch
laut ODIHR grundsätzlich keine Bedingungen für faire Wahlen gegeben
waren. Was mögliche Wahlmanipulationen betrifft, so fordern wir die
türkischen Behörden auf, diesen ernsten Verdachtsmomenten in einer
sorgfältigen und transparenten Weise nachzugehen.

Frage: Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hat angekündigt
,
er wolle nach dem Referendum einen Vorschlag vorlegen, um die
festgefahrenen Verhandlungen über die Visa-Liberalisierungen zu
beleben. Könnte das bedeutet, dass die Türkei doch bereit ist, über
eine Reform ihrer umstrittenen Anti-Terrorgesetze nachzudenken?

Antwort: Wir haben die Erklärung des Außenministers zur Kenntnis
genommen. Ich hoffe, dass sich die Türkei nun bewegt, denn der Ball
liegt einzig und allein dort. Ankara muss die seit 2013 bekannten
Kriterien erfüllen. Sieben Kriterien sind nach wie vor noch
ausständig, darunter das sehr problematische Antiterror-Gesetz.

Frage: Gibt es irgendetwas, das mit Blick auf das Verhältnis zur
Türkei etwas Hoffnung machen könnte?

Antwort: Die türkische Bevölkerung hat zum zweiten Mal - das erste
Mal nach dem versuchten Putsch - ein eindrucksvolles Bekenntnis zur
Demokratie abgegeben, das in der hohen Wahlbeteiligung zum Ausdruck
kommt. Die beachtliche Zahl der «Nein» Stimmen zeigt zudem, dass es
einen großen Teil der Bevölkerung gibt, der die Verfassungsänderung
ablehnt und sich damit eine demokratische, offene und inklusive
Türkei wünscht. Das gibt Hoffnung. Das Ergebnis zeigt: die Türkei
darf eben nicht auf Erdogan reduziert werden.

ZUR PERSON: Der Österreicher Johannes Hahn ist seit 2010 Mitglied der
EU-Kommission. Nach vier Jahren als EU-Kommissar für Regionalpolitik
bekam er 2014 die Zuständigkeit für die Europäische
Nachbarschaftspolitik und die Erweiterungsverhandlungen. Hahn ist
Mitglied der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Für sie war er in
seiner Heimat unter anderem Wissenschaftsminister. Hahn ist 59 Jahre
alt und Vater eines erwachsenen Sohnes.