Schäuble: Brauchen in der EU «flexible Geschwindigkeiten»

20.04.2017 16:18

Für US-Präsident Trump ist die EU ein Auslaufmodell. In Washington
erklärt nun Finanzminister Schäuble, wie er die Zukunft Europas
sieht. Und erinnert an ein mehr als 20 Jahre altes Konzept.

Washington (dpa) - Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) macht
sich angesichts des Reformdrucks in Europa für eine EU der
verschiedenen Geschwindigkeiten stark. Für die akuten Probleme seien
sichtbare europäische Lösungen erforderlich. «Das bedeutet nicht
zwangsläufig, dass alle Mitgliedstaaten immer mitziehen müssen, wenn
das nicht möglich ist», sagte Schäuble am Donnerstag in Washington in

einer Rede vor der Johns Hopkins Universität. «Wir brauchen flexible
Geschwindigkeiten, variable Länder-Gruppierungen, "Koalitionen der
Willigen" - wie auch immer Sie das in der jeweiligen Situation nennen
wollen.» 

Schäuble hatte sich bereits 1994 in dem sogenannten
Schäuble-Lamers-Papier für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten
ausgesprochen. Nach dem Brexit-Votum der Briten zum EU-Austritt hatte
Schäuble mehrfach argumentiert, wichtige Entscheidungen könnten
künftig vor allem die Mitgliedsstaaten vorantreiben. Um schneller
«sichtbare Ergebnisse» zu liefern, müssten notfalls Länder mit
Führungsverantwortung in bestimmten Fragen vorangehen.

Ohne auf den «America-First»-Kurs der neuen amerikanischen Regierung
direkt einzugehen, warb Schäuble in der der US-Hauptstadt für eine
verstärkte internationale Zusammenarbeit. Globalisierung bedeute,
dass die globalen Abhängigkeiten zunehmen. Die Idee eines nationalen
Regierungsmonopols sei veraltet, sagte Schäuble. Es ist unzureichend,
wenn es um die Bekämpfung des Klimawandels geht.

Es reiche auch nicht aus, Sicherheit und Stabilität im Zeitalter der
Massenvernichtungswaffen und der asymmetrischen Kriegsführung zu
gewährleisten. Oder um gesetzliche Standards für das Internet oder
die globalisierten Finanzmärkte umzusetzen: «All dies erfordert mehr

Kooperation und Koordination auf globaler Ebene - oder zumindest auf
der multinationalen Ebene.» Das europäische Projekt ist nach
Schäubles Worten «bei weitem das weltweit modernste Modell für diese

Art globaler Regierungsführung - trotz seiner unbestreitbar
schwerfälligen und komplizierten Verfahren».

Unter dem Druck aktueller Ereignisse beginne Europa anzuerkennen,
dass es seine Probleme effektiver lösen müsse, sagte Schäuble. Dies
betreffe die Migrations-, Sicherheits- und Außenpolitik sowie die
Wirtschafts- und Finanzpolitik. Es gebe viele Anzeichen dafür, dass
die aktuelle Flüchtlingslage nur ein Vorbote sei: «Wenn wir in der EU

auf interne Grenzkontrollen verzichten wollen - und das ist für die
europäische Einheit unentbehrlich - dann brauchen wir ein
einheitliches Regime für unsere Außengrenzen», sagte Schäuble. N
ötig
seien zudem eine einheitliche Asylpolitik und gemeinsame Standards.
Europa muss Schäuble zufolge auch mehr für seine eigene Sicherheit
tun. Neben dem vorgeschlagenen Europäischen Verteidigungsfonds sei
eine gemeinsame Armee erforderlich mit eigenen Kommandostrukturen.

Schäuble sprach sich erneut für einen Reformschub aus. Es sei
Konsens, dass alle Volkswirtschaften Strukturreformen angehen
müssten, um ihre Produktivität und - in vielen Fällen - ihre
Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Es gebe weltweit keinen Mangel an
Schulden oder Notenbank-Geld. Es gebe aber in vielen Ländern einen
Mangel an Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, weil dort die
nötigen Reformen nicht angegangen worden seien.

Dass «einige Teile Europas» mit Problemen zu kämpfen hätten, lieg
e
nicht an den vereinbarten Regeln, sondern daran, dass diese Regeln
nicht ordnungsgemäß umgesetzt würden. Deshalb müsse Europa auch
weiter Druck auf nationale Regierungen ausüben, sagte Schäuble, ohne
Euro-Krisenländer wie Griechenland zu erwähnen. Darauf mache er immer
wieder aufmerksam, weshalb er wohl nicht der beliebteste
Finanzminister in der Eurozone sei.