Europa träumt wieder Von Martina Herzog und Thomas Lanig, dpa

22.06.2017 17:39

Ein Neuling, der Blicke auf sich zieht, ein Ratschef, der sich auf
einen Song besinnt: Beim Brüsseler EU-Gipfel herrscht Optimismus -
Antworten müssen folgen.

Brüssel (dpa) - Wenn ein Politroutinier in Brüssel John Lennon
zitiert, dann weiß man: Europa sieht sich im Aufwind. «You may say
I'm a dreamer, but I am not the only one», sagt EU-Ratspräsident
Donald Tusk am Donnerstag . «Ihr könnt mich einen Träumer nennen,
aber ich bin nicht der einzige.» Soweit Tusks poetischer Beitrag zur
Frage, ob die Entscheidung Großbritanniens zum EU-Austritt umkehrbar
wäre. Nach Jahren, in denen in Europa eine Krise der anderen folgte,
macht sich derzeit gänzlich unüblicher Optimismus breit. Fragt sich
nur, wie realistisch das ist.

In der Tat träumt Tusk dieser Tage nicht allein und nicht nur vom
Brexit-Exit. Vieles scheint möglich, seit mit dem französischen
Präsidenten Emmanuel Macron ein glühender Europafreund in den
Élysée-Palast eingezogen ist. Die Abfuhr für die EU-Gegner auch bei
den Wahlen in den Niederlanden und eine Londoner Regierung, die dem
Brexit bislang nur hilflos entgegen stolpert, tun ein Übriges.
Brüssel bläst die Backen auf.

So viel gute Laune soll nicht verpuffen. Es sei Zeit für die
Erneuerung Europas, sagt Macron. Aufdrücken dürfe man das den Völkern

des Kontinents aber nicht, wie er der «Süddeutschen Zeitung» und
anderen Blättern gerade erläutert hat. «Wir müssen sie mitnehmen, w
ir
müssen sie wieder träumen lassen!»

Auch von Europa, einem «Europa, das schützt», wie Macron gerne sagt:

vor Sozialdumping, vor chinesischen Investoren-Heuschrecken, vor den
harschen Winden ungezügelter Globalisierung. Gelingen soll das im
Schulterschluss mit Berlin, in einer «Allianz des Vertrauens».

Kanzlerin Angela Merkel, die Analytische, Erfahrene, reagiert auf
Macrons Reformeifer mit viel Sympathie, aber auch Zurückhaltung. «Ich
glaube, dass gerade auch Kreativität und neue Impulse, die von
Frankreich ausgehen, die von Deutschland und Frankreich ausgehen,
allen gut tun können», sagt sie.

Aber sie weiß auch, worauf es zunächst ankommt. Endlich gebe es
wieder Wachstum in allen Ländern. Das müsste aber auch «spürbar
werden für die Menschen, sowohl was Arbeitsplätze anbelangt, aber
auch was das Thema Sicherheit anbelangt.»

Und beim Blick auf die Gipfel-Verhandlungen gibt es auch mindestens
zwei Punkte, die Merkel nicht nur gute Laune machen. Da ist erst
einmal der Streit um die beiden EU-Agenturen, die viele Länder gerne
haben wollen. Dass es eine Absprache zwischen Deutschland und
Frankreich gebe, wird von beiden Seiten zurückgewiesen, dass Merkel
aber zumindest eine der beiden Prestige-Behörden, entweder die
Bankenaufsicht EBA oder die größere Arzneimittel-Agentur EMA, nach
Deutschland holen möchte, ist auch klar.

Noch heikler ist die Kritik an den Plänen für die Gaspipeline Nord
Stream 2 von Russland. Die EU-Kommission will dafür ein
Verhandlungsmandat mit Russland. Merkel lehnt das bisher ab, weil es
sich nach deutscher Lesart um ein privates unternehmerisches Projekt
handelt.

Macron und Merkel: Da bleibt noch vieles zu besprechen. Nächste
Gelegenheit: Die Trauerfeier für Altbundeskanzler Helmut Kohl am 1.
Juli in Straßburg. Gelegenheit vor allem auch, die neue
deutsch-französische Nähe zu demonstrieren.