Ein Jahr nach dem Brexit-Votum - wie geht's weiter? Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

23.06.2017 16:58

Premierministerin May kämpft in Großbritannien ums politische
Überleben. Mit einer Initiative für die EU-Austrittsverhandlungen
will sie Handlungsfähigkeit beweisen. Ob das klappt?

Brüssel (dpa) - Brexit heißt Brexit - aber was der EU-Austritt für
Millionen betroffener Bürger konkret bedeutet, behielt die britische
Regierung nach dem Referendum vom 23. Juni 2016 genau 364 Tage für
sich. Beim EU-Gipfel präsentierte Premierministerin Theresa May nun
ihren Noch-Kollegen aus den übrigen 27 Ländern ihren ersten
Verhandlungsvorschlag. Er bringt etwas Klarheit - über die Zukunft
der EU-Bürger in Großbritannien und über die politische Lage ein Jahr

nach der historischen Entscheidung der Briten. Fünf Schlüsse, die man
ziehen kann:

1. May bietet mehr als erwartet

Die britische Regierungschefin selbst spricht von einem «sehr fairen
und ernsthaften Angebot für EU-Bürger» in Großbritannien. «Ich wi
ll
alle EU-Bürger beruhigen, die im Vereinigten Königreich sind und die
hier ihr Leben und ihre Heimat aufgebaut haben, dass niemand
ausreisen muss, dass wir keine zerrissenen Familien sehen werden»,
sagte sie am Freitag. Das klingt sehr weitreichend - umfassender als
mancher erwartet hatte.

2. Damit kann May aber vorerst kaum punkten

Die ersten Reaktionen fielen dennoch kühl bis kritisch aus.
EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, nach seinem ersten Eindruck
bleibe der Vorschlag hinter den Erwartungen zurück. Die EU-Seite will
sich aber aus verhandlungstaktischen Gründen nicht festlegen, sondern
wartet auf das schriftliche Angebot, das am Montag vorliegen soll.
Vertreter der EU-Bürger in Großbritannien schauen auf Details, die
schon von Diplomaten in Umlauf gebracht wurden, und beklagen Lücken.
Armselig sei der Vorschlag und «weder fair, noch ernst gemeint»,
befand die Lobbygruppe 3million. Was ist mit der
Familienzusammenführung? Mit dem Recht auf Arbeit? Mit der
Anerkennung ausländischer Zeugnisse? Mit lebenslangen Garantien?

3. Mays Position in den Verhandlungen ist geschwächt

Der Ablauf zeigt: May kämpft nach ihrer Schlappe bei der
Unterhauswahl bisher vergeblich darum, das Heft des Handelns wieder
in die Hand zu bekommen. Ihre Minderheitsregierung mit Unterstützung
der nordirischen DUP steht immer noch nicht, ihre groß angekündigte
Initiative für die Brexit-Verhandlungen verpufft erstmal - und weckt
gleichzeitig Misstrauen bei Kritikern, die ein zu großes
Entgegenkommen der britischen Regierung bei den am Montag gestarteten
Brexit-Verhandlungen wittern.

4. Für die EU-Seite ist Mays Schwäche komfortabel

Mays Schwäche nährt Selbstbewusstsein bei den übrigen 27 EU-Staaten.

Sie beglückwünschen sich selbst zu ihrer geschlossenen Haltung
gegenüber Großbritannien. Und sie präsentieren ein Gegenmodell: Ihr
Chefunterhändler Michel Barnier wirkt nicht nur sehr gut präpariert,
sondern auch selbstbewusst und souverän.

5. Für die EU-Seite ist Mays Schwäche gefährlich

Dass May angeschlagen ist, macht vielen bei der EU aber auch Sorge.
Wird sie überhaupt eine Regierung zustande bringen? Wird sie
politisch überleben? Werden ihre Verhandlungspositionen Bestand
haben? Die Unsicherheit passt nicht zum Zeitdruck der Verhandlungen
über den EU-Austritt Großbritanniens. Bis 29. März 2019 soll eine
Vereinbarung stehen, und der Streit ums Kleingedruckte beginnt gerade
erst.