Merkel und Macron demonstrieren Harmonie - viele Baustellen bleiben Von Thomas Lanig und Ansgar Haase, dpa

23.06.2017 18:03

Seite an Seite für ein starkes Europa: Diesen Eindruck versuchen
Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron beim EU-Gipfel zu
vermitteln. Daran, dass es für Merkel theoretisch der letzte große
Auftritt in Brüssel gewesen sein könnte, denkt niemand.

Brüssel (dpa) - Es ist das stärkste Signal für Eintracht und Nähe,

das am Ende eines EU-Gipfels zur Verfügung steht. Gemeinsam
treten Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron vor die Presse und berichten, ganz und gar
übereinstimmend, von den Ergebnissen. Bekenntnis zum Pariser
Klimaabkommen, Freihandel mit Regeln, Kampf dem Terror auch im Netz,
«qualitative Fortschritte» in der Verteidigungspolitik. Nur über ei
n
Thema habe man nicht gesprochen. Griechenland - was als gutes Zeichen
zu werten sei. 

Üblich sind nach dem Gipfel getrennte Auftritte, und auch wenn der
deutsche und französische Pressesaal im Brüsseler Ratsgebäude
nebeneinander liegen, werden dort doch oft ganz unterschiedliche und
manchmal auch widersprüchliche Dinge vorgetragen. 

Diesmal ist es anders. Merkel spricht von einem «Geist neuer
Zuversicht», Macron betont das gemeinsame Erbe und erinnert an
Altkanzler Helmut Kohl, dem er und Merkel am Samstag in Straßburg die
letzte Ehre erweisen wollen.

Unbestritten herrscht am Jahrestag der Brexit-Abstimmung in
Großbritannien eine neuer «Geist der Kooperation». Die EU ist in
diesen zwölf Monaten nicht zusammengebrochen, sondern hat sich
zusammengerauft - jedenfalls sieht es so aus. 

Unter dem Mantel der demonstrativen Geschlossenheit schlummern aber
durchaus riskante Konflikte, die auch Merkel und Macron nicht
ignorieren können, und manche sind sogar leicht erkennbar.

Das ist zum Beispiel die sogenannte Pesco. Die geplante «ständige
strukturierte Zusammenarbeit» in der Verteidigungspolitik ist sicher
ein Schritt nach vorne, den die Briten lange verhindert hatten. Doch
viele wichtige Details sind weiter nicht geklärt. So gibt es zwischen
Paris und Berlin bis heute keine Einigkeit darüber, wie sie
organisiert werden soll. Deutschland will die Teilnahme an der Pesco
möglichst allen Ländern erlauben. Frankreich fürchtet hingegen, dass

dadurch ehrgeizige Projekte wie Anti-Terror-Einsätze in Afrika
verhindert werden könnten.

Auch in der Flüchtlingspolitik gibt es in der EU mehr Kontroversen
als Einigkeit, keinerlei Fortschritte bei der Entlastung
Griechenlands und Italiens, keine faire Verteilung innerhalb der
EU. «Ich werde nicht aufhören, darüber zu sprechen», sagt Merkel
fast
trotzig. Dass sich der tschechische Präsident Milos Zeman wegen
angeblicher Einschränkungen der nationalen Souveränität an den
Warschauer Pakt in Sowjetzeiten erinnert fühlt, macht die Tiefe des
Grabens deutlich.

Zündstoff für die nächsten Monate bietet auch der Umzug der zwei noch

in London ansässigen EU-Agenturen mit vielen qualifizierten
Mitarbeitern. Fast alle Länder wollen eine davon abkriegen, entweder
die Arzneimittelagentur EMA oder die Bankenaufsicht EBA. Auch
Deutschland bietet mit.

Beim Gipfel einigte sie sich mit ihren Kollegen lediglich darauf, wie
das Verfahren für die Standortentscheidung ablaufen soll. Absprachen
mit Frankreich gebe es bislang nicht, beteuerte die Kanzlerin. Kaum
etwas würde kleineren EU-Staaten wohl mehr aufstoßen, wenn es Merkel
und Macron gelingen würde, sich die attraktiven Standorte
untereinander aufzuteilen. Es ist die erste heikle Frage, die im
Zusammenhang mit den EU-Austrittsplänen Großbritanniens im Kreise der
27 verbleibenden Staaten zu klären ist.

Für Streit und unangenehme Diskussion könnte nach der Sommerpause
auch die geplante Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 sorgen, die noch mehr
Gas von Russland in Richtung Deutschland bringen soll. Das von der
Bundesregierung unterstützte Projekt stößt in zahlreichen anderen
EU-Staaten und bei der EU-Kommission auf heftigen Widerstand.

Die Kritiker befürchten unter anderem eine zu starke Abhängigkeit von
russischen Energielieferungen. Manch einer sieht darin auch einen
Widerspruch zu den Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die Merkel
ja befürwortet. Sie werden nach Beratungen beim Gipfel um weitere
sechs Monate verlängert.

Ein ganz anderes Tabu-Thema ist am Freitag die Bundestagswahl im
kommenden September. Niemand spricht darüber, dass es für die
deutsche Kanzlerin theoretisch der letzte Auftritt bei einem
EU-Gipfel in Brüssel gewesen sein könnte. Auch wenn alle Umfragen
gegen ihn sprechen, gibt sich SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz
weiter kämpferisch. Er warnte zum Gipfel in der «Passauer Neuen
Presse» vor einem Scheitern der EU und warf Merkel eine mutlose
Politik vor. Macron und Merkel versuchten Seite an Seite, einen ganz
anderen Eindruck zu vermitteln.