Warnschuss aus Karlsruhe - Verfassungsrichter nehmen EZB ins Visier Von Friederike Marx und Anja Semmelroch, dpa

15.08.2017 12:33

Mit der Wirtschaft im Euroraum geht es aufwärts. Grund genug für
EZB-Chef Draghi, seine ultralockere Geldpolitik als Erfolgsgeschichte
zu feiern. Wichtiger Pfeiler sind die vielen Milliarden Euro, die die
Notenbank in Staatsanleihen steckt. Aber ist das überhaupt erlaubt?

Karlsruhe/Frankfurt (dpa) - Die aktuelle Geldschwemme der
Europäischen Zentralbank (EZB) ist unter Ökonomen heftig umstritten.
Jetzt bekommen die Währungshüter unter EZB-Präsident Mario Draghi
auch juristisch Gegenwind: Das Bundesverfassungsgericht meldet in
einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss Bedenken gegen den
milliardenschweren Ankauf von Staatsanleihen im Euroraum an (Az. 2
BvR 859/15 u.a.). Bis zu einem Urteil ist es aber noch ein weiter
Weg.

Welche Papiere erwirbt die EZB?

Seit Anfang März 2015 erwerben die Währungshüter jeden Monat
verschiedene Wertpapiere im großen Stil - vor allem Staatsanleihen
der Euro-Länder. Genau um diese Staatsanleihen geht es dem
Verfassungsgericht. Eine Anleihe ist eine Art Schuldschein, die
Ausgabe von Staatsanleihen eine Art Kreditaufnahme. Staaten besorgen
sich auf diese Weise frisches Geld bei Banken und Investoren wie
Fonds oder Versicherungen. Für jede Anleihe wird festgelegt, wann der
Staat das Geld zurückzahlen muss und wie viel Zinsen er dem Geldgeber
dafür zahlen muss. Je riskanter eine Staatsanleihe aus Sicht der
Gläubiger ist, desto höhere Zinsen muss der Schuldner einräumen, um
Käufer zu finden. Indem die EZB Staatsanleihen kauft, sinkt das
Zinsniveau für diese Papiere. Staaten, aber auch Unternehmen sollen
so billiger an Geld kommen.

Um welche Summen handelt es sich?

Seit Beginn des Programms im März 2015 hat die EZB Anleihen und
andere Wertpapiere im Volumen von insgesamt bisher 2,01 Billionen
Euro gekauft (Stand: Ende Juli). Der größte Teil sind mit 1,66
Billionen Euro Staatsanleihen sowie Schuldtitel europäischer
Institutionen. Monatlich nehmen die Währungshüter derzeit rund 60
Milliarden Euro in die Hand. Das Programm soll noch bis mindestens
Ende 2017 laufen, insgesamt sollen es 2,28 Billionen Euro werden.
«Durch seine Anleihekäufe ist das Eurosystem mittlerweile zum größt
en
Gläubiger der Euroländer geworden», kritisierte Bundesbank-Präsiden
t
Jens Weidmann jüngst. Kritiker fürchten, dass durch das viele billige
Geld der Reform-Druck auf die Regierungen der 19 Euro-Länder sinkt.

Warum flutet die EZB die Märkte mit Geld?

Die Währungshüter wollen mit der Geldschwemme die Inflation und
Konjunktur im Euroraum ankurbeln. Im Idealfall kommt das zusätzliche
Zentralbankgeld über die Banken, denen die Notenbank Wertpapiere
abkauft, über Kredite bei Unternehmen und Verbrauchern an. Geben
Verbraucher und Unternehmen mehr aus, kommt die Konjunktur in
Schwung, die Arbeitslosigkeit sinkt, Gewerkschaften können in der
Regel höhere Löhne durchsetzen. Die Inflation steigt.

Warum kann eine niedrige Inflation gefährlich sein?

Dauerhaft niedrige oder gar sinkende Preise können Unternehmen und
Verbraucher dazu bringen, Investitionen aufzuschieben - in der
Hoffnung, dass es bald noch billiger wird. Dadurch kann eine
gefährliche Spirale aus sinkenden Preisen und sinkender Nachfrage in
Gang kommen. Im schlimmsten Fall würde das die Konjunktur abwürgen.
Die EZB strebt eine Teuerungsrate von knapp unter 2,0 Prozent an -
weit genug entfernt von der Nulllinie. Die Zeiten der Mini-Inflation
im Euroraum sind inzwischen vorbei. Im Juli lag die Rate bei 1,3
Prozent. «Es ist wahr, dass unsere geldpolitischen Maßnahmen schon
lange laufen, aber sie haben sehr bedeutsame Effekte bewirkt - unsere
Geldpolitik war erfolgreich», sagte Draghi jüngst.

Welche Rolle spielt die Deutsche Bundesbank?

Die Käufe werden zum größten Teil über die Notenbanken der
Eurostaaten abgewickelt. Die Bundesbank ist mit 25,6 Prozent am
eingezahlten Kapital größter EZB-Anteilseigner. Etwa ein Viertel der
Wertpapierkäufe entfällt damit auf Deutschland. Die nationalen
Zentralbanken konzentrieren sich vor allem auf Papiere des jeweiligen
Heimatlandes. Die Bundesbank hat also vor allem deutsche
Staatsanleihen in ihren Büchern. Diese gelten als besonders sicher.

Warum ist das ein Fall für deutsche Verfassungsrichter?

Kritiker wie der frühere CSU-Vize Peter Gauweiler und der einstige
AfD-Mitbegründer Bernd Lucke haben gegen das gewaltige Kaufprogramm
geklagt. Sie sind überzeugt, dass die EZB damit nicht nur Währungs-,
sondern auch Wirtschaftspolitik betreibt - das ist der Notenbank
untersagt. Als deutsche Wähler und Steuerzahler sehen sich die Kläger
in ihren Rechten verletzt: Ohne dass der Bundestag dem je zugestimmt
habe, gehe die Bundesbank für die EZB Milliardenrisiken ein.

Wie sieht die EZB das?

Die Währungshüter erwerben die Anleihen nicht direkt von den Staaten,
sondern von Banken und anderen Investoren. Nach ihren Statuten dürfen
sie bereits im Umlauf befindliche Papiere kaufen. Um nicht in den
Verdacht der verbotenen Staatsfinanzierung zu geraten, hat sich die
Notenbank auferlegt, höchstens 33 Prozent der Staatsanleihen eines
Eurolandes beziehungsweise eines einzelnen Wertpapiers zu kaufen. Den
Bundesverfassungsrichtern scheint das aber nicht auszureichen.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Richter beantragen, dass der EuGH in einem beschleunigten
Verfahren entscheidet. Solche Vorabentscheidungsverfahren dauern im
Schnitt knapp fünf Monate. Anschließend soll es in Karlsruhe eine
mündliche Verhandlung geben. Bis zur Urteilsverkündung vergehen
danach erfahrungsgemäß noch einmal mindestens mehrere Monate. Mit der
endgültigen Entscheidung dürfte also eher gegen Ende kommenden Jahres
zu rechnen sein. Im äußersten Fall könnte das Verfassungsgericht der

EZB dazwischen grätschen und die deutsche Beteiligung an den
Anleihenkäufen verbieten. Die große Frage ist allerdings, ob das
Kaufprogramm dann überhaupt noch läuft - Beobachter mutmaßen, dass
die Notenbank den schrittweisen Ausstieg 2018 vollziehen könnte.