Die jungen Wilden und eine fast normale Kanzlerin Von Thomas Lanig, dpa

20.10.2017 15:05

Jamaika wirft Schatten bis nach Brüssel. Die Kanzlerin bittet um
Geduld. Sie bleibt ihrer pragmatischen Politik in Europa treu. Und
nach dem französischen Präsidenten Macron schiebt sich eine zweite
jugendliche Erscheinung in den Vordergrund.

Brüssel (dpa) - So weit ist Brüssel nicht von Berlin entfernt. Das
hat für Angela Merkel den Vorteil, dass sie um 13.00 Uhr in der
EU-Hauptstadt noch vor die Journalisten treten kann, und am
Nachmittag schon bei den Sondierungsgesprächen über eine
Jamaika-Koalition dabei ist. Es hat aber auch die Konsequenz, dass in
Brüssel sehr genau verfolgt wird, wie es denn nun in Berlin mit der
Kanzlerin weitergeht. «Kompliziert» sei die Lage zuhause, soll Merkel
auf entsprechende Nachfragen geantwortet haben.

Sie hat es eilig, nach Berlin zurückzufliegen. Gerade zehn Minuten
nimmt sie sich am Freitag Zeit für die Pressekonferenz. Dass sie nun
aber bei diesem EU-Gipfel, der sich vor allem mit der Türkei, den
Flüchtlingen und den komplizierten Brexit-Verhandlungen
befasst, geschwächt oder machtlos oder sonst eingeschränkt gewesen
wäre, kann niemand behaupten. Beim Arbeitsfrühstück am Freitagmorgen

sitzt Merkel im weißen Blazer am Kopf des großen ovalen
Konferenztischs, wie die Chefin.

Dass der mögliche Koalitionspartner FDP schon öffentlich über ein
vorzeitiges Ende ihrer Kanzlerschaft spekuliert, wird hier kaum zur
Kenntnis genommen. Natürlich müssten künftig FDP und Grüne einbezog
en
werden, wenn es um konkrete EU-Beschlüsse geht, sagt Merkel. Aber:
«Die Beschlüsse heute sind so allgemein, dass sich dagegen natürlic
h
niemand wenden wird.»

«Hier reist eine normale Bundeskanzlerin an», hieß es vor dem Gipfel

aus Merkels Umfeld. Selbst nach der konstituierenden Sitzung des
Bundestags in der nächsten Woche sei sie weiter geschäftsführend im
Amt, mit rechtlich denselben Befugnissen. Sicherheitshalber bittet
Merkel die EU-Partner um Geduld.  

Eine ganz normale Kanzlerin. Nach der ersten Arbeitssitzung kurz nach
Mitternacht sieht sie müde aus. «Guten Morgen», sagt sie, ein
bisschen ironisch, aber die späte Stunde ist nicht wirklich
ungewöhnlich in Brüssel. Dann zeigt sich Merkel pragmatisch wie
immer: Türkei-Hilfen kürzen, aber in «verantwortbarer Weise». Auch

beim Brexit glaubt sie an den Erfolg. «Ich habe da eigentlich
überhaupt gar keinen Zweifel, wenn wir geistig alle klar sind.» Wenn
es mal zwei oder drei Wochen länger dauert, dann ist das eben so.

Es kommt Merkel dabei zugute, dass nach den hochfliegenden
Reformplänen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nun wieder

Nüchternheit einkehrt in der Welt der Europäischen Union. Künftig
sollen mehr Entscheidungen auf Chef-Ebene fallen, mehr Effizienz ist
das Ziel. «Echte Lösungen für echte Probleme» will Ratspräsident

Donald Tusk.

Beispiel Türkei: Von Abbruch der Beziehungen, wie sie noch im
deutschen Wahlkampf gefordert wurde, ist nicht mehr die Rede. Das
wäre auch ohne Aussicht auf Erfolg gewesen, denn die notwendige
Einstimmigkeit beim Gipfel war dafür nicht zu erreichen. «Ich habe
dafür geworben, das Gespräch mit der Türkei zu suchen», sagt Merkel
.
Trotz aller Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit und die inhaftierten
deutschen Staatsbürger.

Beispiel Brexit: Die Fortschritte seien ermutigend, aber noch nicht
ausreichend, heißt es. Merkel nennt die von Premierministerin Theresa
May geforderte Übergangszeit von zwei Jahren «eine interessante
Idee». Aber darüber könne erst in Phase zwei der Verhandlungen
gesprochen werden. Immerhin sollten sich die verbleibenden 27 aber
schon einmal Gedanken darüber machen, wie sie sich denn die Zukunft
der Beziehungen zu London vorstellen.  

Emmanuel Macron bleibt der Star auf der europäischen Bühne, er darf
auch schon mal 40 Minuten beim Abendessen reden. Aber noch ein
anderer junger Wilder könnte beim nächsten Mal auch offiziell dabei
sein. Der österreichische Wahlsieger Sebastian Kurz trifft schonmal
am Rande des Gipfels wichtige Leute. Er stehe für einen
pro-europäischen Kurs, sagt er, mit welcher Koalition auch immer.

Ist Macron sein Verbündeter, wird Kurz gefragt. «Ich sehe es positiv,
dass er den Willen und die Ambitionen hat, die Europäische Union zu
verändern.» Er freue sich auf die Zusammenarbeit, aber natürlich au
ch
auf die mit der Kanzlerin.

«Die CDU/CSU ist unsere Schwesterpartei», sagt Kurz, und dann gleich
hinterher: «Wir sind sehr froh, dass wir bei dieser Wahl massiv
zulegen konnten.» Das kann Merkel nun nicht behaupten. Wenn etwas
ihre Position auf europäischer Bühne schwächt, dann ist es wohl ehe
r
das schlechte Ergebnis der Union bei der Bundestagswahl als die
ungeklärte Koalitionsfrage.