Die Angst der Wirtschaft vor dem Sturz in den Brexit-Abgrund Von Christoph Meyer, dpa

15.11.2017 09:46

Hat das Mutterland der industriellen Revolution mit dem EU-Austritt
seinen ökonomischen Verstand verloren? Angesichts zäher
Brexit-Gespräche läuft der britischen Wirtschaft die Zeit davon.

London (dpa) - Als die britische Premierministerin Theresa May im
September in Florenz eine Rede zum Brexit hielt, atmete die
Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals auf. Erstmals brachte
May konkret eine Übergangsphase nach dem EU-Austritt ihres Landes im
März 2019 ins Spiel. Zwei Jahre, in denen weitgehend alles beim Alten
bleiben soll. Das würde Unternehmen und Regierung Luft verschaffen,
um sich auf Veränderungen nach dem Brexit einzustellen.

Doch knapp zwei Monate später ist von dem Optimismus nicht viel
geblieben. Es geht nicht voran bei den Brexit-Gesprächen. Kommt die
Einigung für die Übergangsphase zu spät, müssen sich die Unternehme
n
schon bald auf den schlimmsten Fall vorbereiten: den Sturz in den
Brexit-Abgrund, ein Austritt aus der Europäischen Union ohne Abkommen
über die Zukunft.

Zölle müssten eingeführt werden, und Warenkontrollen an den Grenzen
wären nötig. Ein Szenario, für das weder die britischen Zollbehörde
n
noch ihre Kollegen auf dem Kontinent gerüstet wären. «Das wäre der

chaotische Brexit», sagt Ulrich Hoppe von der deutsch-britischen
Industrie- und Handelskammer in London: «Dann sind die Häfen am
nächsten Tag zu.»

Für Banken und Finanzdienstleister aus der Londoner City wären die
Folgen ähnlich drastisch. Sie müssten Teile ihres Geschäfts an
Standorte in der Europäischen Union verlagern; sonst wäre es möglich,

dass sie ihre Produkte nicht mehr in die EU verkaufen dürfen.

Etwa 50 Banken haben sich nach Angaben der Europäischen Zentralbank
(EZB) bereits zur Verlagerung von Geschäften erkundigt. 20 haben
schon eine Banklizenz im Euroraum beantragt. Experten rechnen mit bis
zu 70 000 Jobs, die allein in der Finanzbranche aus Großbritannien
abwandern könnten.

Entscheidungen, die nicht mehr ohne erhebliche Kosten rückgängig
gemacht werden können - und sie müssen bald getroffen werden. Bei
einer Umfrage des wichtigsten britischen Unternehmerverbands CBI
(Confederation of British Industry) gaben 60 Prozent der Firmen an,
spätestens Ende März 2018 noch eine Kehrtwende vollziehen zu können.

Ein Viertel der Unternehmen sieht schon beim Jahreswechsel einen
Punkt erreicht, von dem es kein Zurück mehr gibt.

«Wir brauchen jetzt mehr als warme Worte», betonte
CBI-Generaldirektorin Carolyn Fairbairn kürzlich nach einem Treffen
zwischen Vertretern europäischer Unternehmensverbände und
Premierministerin May. Auch deutsche Wirtschaftsverbände erhöhten
dabei den Druck auf die britische Regierung. «Wir brauchen rasch
Klarheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen», sagte
BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Man erwarte bis zum
nächsten EU-Gipfel Mitte Dezember aus London Ergebnisse.

Die wirtschaftliche Gesamtlage scheint sich einzutrüben.
Großbritannien ist mit 0,4 Prozent Wachstum im dritten Quartal
inzwischen auf den hinteren Plätzen in der EU.

Doch die Unternehmen scheuen Investitionen. «Eine der Konsequenzen
des Brexits ist Unsicherheit», sagt Amit Kara vom National Institute
of Economical and Social Research, einer einflussreichen Londoner
Denkfabrik. «Es wäre besser, wenn sie wissen würden, dass es entweder

so oder so weitergeht, als in der Luft zu hängen.»

Ein weiterer Grund für das gehemmte Wachstum ist die gesunkene
Kauflaune der Briten. Im vergangenen Jahr profitierte die britische
Wirtschaft noch von einem Kaufrausch. Doch der war vor allem
finanziert über Kreditkarten. Inzwischen fürchten sich Einzelhändler

vor einem lauen Weihnachtsgeschäft und senken jetzt schon die Preise.

Die sind im vergangenen Jahr erheblich gestiegen, und das trifft vor
allem die einkommensschwachen Briten. Schuld daran ist der
Wertverfall des britischen Pfunds nach dem Brexit-Votum im
vergangenen Jahr. Die Inflation liegt bei drei Prozent, bei
Lebensmitteln beträgt die Teuerungsrate sogar mehr als vier Prozent.

Die Einkommen der Briten stiegen dagegen im vergangenen Jahr nur um
2,1 Prozent. Und das, obwohl die Beschäftigung auf einem Rekordhoch
ist. Doch geringe Produktivität verhindert, dass die Löhne nach oben
klettern. Hoppe macht dafür das schlechte Ausbildungssystem in dem
Land verantwortlich. Bislang sei das durch Fachkräfte aus der EU
ausgeglichen worden, doch es werden bereits spürbar weniger.

Alle Hoffnungen richten sich nun darauf, dass es May doch noch
gelingt, ein Angebot auf den Tisch zu legen, das die Verhandlungen in
die nächste Runde befördert. Doch dazu müsste sie sich über die
Brexit-Puristen in ihrer Partei hinwegsetzen. Das scheint angesichts
der knappen Mehrheit, über die May im Parlament verfügt, zweifelhaft.