Die Quadratur des Kreises: Beim Brexit sind noch viele Fragen offen Von Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

08.12.2017 16:22

Die EU und Großbritannien sind stolz: Nach sechs Monaten liefern die
Brexit-Verhandlungen das erste greifbare Ergebnis. Wirklich geklärt
ist aber noch nicht viel.

Brüssel (dpa) - Ein Arbeitsfrühstück sollte es sein. Aber diesmal
dürfte Theresa May kaum Zeit für eine Tasse Tee gehabt haben. Kurz
vor sieben am Freitagmorgen rauschte der Autokorso der britischen
Premierministerin über den nächtlichen Boulevard Charlemagne ins
Gebäude der EU-Kommission, kurz nach halb acht stand sie schon neben
Kommissionschef Jean-Claude Juncker auf der Bühne im großen Saal und
verkündete den ersten Durchbruch bei den Brexit-Verhandlungen.

Die Regierungschefin im grauen Kostüm wirkte eher angestrengt als
euphorisch. «Wir haben in dieser Woche extrem hart gearbeitet», sagte
sie. «Es war für keine Seite leicht.»

Denn eigentlich sollte die Einigung über die wichtigsten
Trennungsfragen beim britischen EU-Austritt schon am Montag bei einem
Arbeitsmittagessen mit Juncker aufgetischt werden. Stattdessen musste
May sich am Rande der dreistündigen Marathonmahlzeit telefonisch mit
ihren verärgerten politischen Partnern zuhause herumplagen und
schließlich unverrichteter Dinge heimreisen. Vielleicht auch deshalb
die Eile am Freitag: Nur keine Zeit lassen für weitere Störmanöver.

WIE MAN EINEN KREIS ZUM QUADRAT ERKLÄRT

Was war geschehen zwischen Montag und Freitag? Die Premierministerin
hatte ihre liebe Not, das zu erklären. «Wir haben eine Stärkung der
Zusagen mit Bezug auf Nordirland und Großbritannien», sagte sie. «Ich

glaube das ist wichtig und hilfreich.»

Es ging zuletzt fast nur noch um die sogenannte irische Frage. Die
Republik Irland bleibt EU-Mitglied, das britische Nordirland geht mit
dem übrigen Großbritannien raus aus der Gemeinschaft, dem Binnenmarkt
und der Zollunion. Durch die irische Insel zieht sich also künftig
eine EU-Außengrenze. Eine befestigte Linie widerspräche aber dem
Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem die Iren im Norden und Süden
nach Jahren blutiger Konflikte gerade erst mühsam zueinander gefunden
hatten. Die Insel ist ein gemeinsamer Wirtschaftsraum und soll es
bleiben.

Es wird also eine Grenze sein, die keine Grenze sein darf - an der
keine Grenzer kontrollieren und keine Zölle erhoben werden. Diese
Garantie rang die irische Regierung der britischen ab und so
bestätigte es May auch. Notfalls, so steht es in der Vereinbarung
beider Seiten, sollen auf der nordirischen Seite die Regeln des
EU-Binnenmarkts weiter gelten, wenn man keine andere Lösung findet.

Das aber würde einen Sonderstatus für Nordirland bedeuten - und das
trifft auf heftigen Widerstand der nordirischen Partei DUP, mit deren
Hilfe May regiert. Wie sich dieses Knäuel widersprüchlicher
Bedingungen auflösen soll, ist völlig unklar.

Aus dem Kompromiss kann offenbar jeder das Seine lesen. Ein «gutes
Beispiel für konstruktive Doppeldeutigkeit», nennt das der
Brexit-Experte Simon Usherwood von der University of Surrey. Das
Centrum für Europäische Politik spricht von «einer frommen
Absichtserklärung voller Ungereimtheiten».

LONDON RETTET SICH IN PHASE ZWEI

Man kann die 15-seitige gemeinsame Erklärung zu den bisherigen
Verhandlungsergebnissen aber auch als politische Lebensversicherung
für May deuten. Denn unterm Strich zählt: Ein Scheitern der
Brexit-Verhandlungen ist vorerst abgewendet.

Medien spekulierten längst über Mays Sturz, sollten die Unterhändler

nicht endlich die für Großbritannien so wichtigen Kapitel öffnen: die

künftigen Handelsbeziehungen zur EU. Die nordirische DUP ließ die
Regierungschefin mit ihrem Veto noch einmal spüren, wie tief sie im
Schlamassel sitzt, seit sie bei ihrer Wahlschlappe im Sommer die
eigene konservative Mehrheit einbüßte: Sie ist auf die DUP-Stimmen im
Parlament angewiesen.

Nach der morgendlichen Einigung in Brüssel stellten sich selbst
führende Brexit-Befürworter im Kabinett wie Außenminister Boris
Johnson demonstrativ hinter die Premierministerin. Doch es ist
fraglich, wie lange die Einmütigkeit andauert. Die DUP machte
deutlich, dass sie der Einigung nur widerwillig zugestimmt hat.

Der Chef der EU-feindlichen Partei Ukip, Nigel Farage, ätzte, May
führe das Land in eine weitere Phase der Erniedrigung - eine Sicht,
die einige Abgeordnete in der Regierungsfraktion teilen dürften. Auch
in der zweiten Verhandlungsphase wird May den Brexit-Enthusiasten in
ihrer Partei noch einige Kröten zu schlucken geben müssen.

JETZT WIRD ES ERST RICHTIG SCHWIERIG

Das sieht die EU genauso. Die 27 bleibenden Staaten haben sich nach
dem Schock über den Abschied der Briten zusammengerauft und fühlen
sich obenauf. So legte EU-Ratspräsident Donald Tusk gleich am Freitag
Vorschläge für die zweite Verhandlungsphase vor, die es in sich
haben.

Zum einen soll, wenn der EU-Gipfel dem nächste Woche zustimmt,
zunächst nur über die von Großbritannien angeregte Übergangsperiode

geredet werden. Viel zu verhandeln gibt es da aus Tusks Sicht nicht:
In dieser Periode von etwa zwei Jahren nach dem Austritt im März 2019
müssten die Briten weiter an den EU-Haushalt zahlen und alle Regeln
des Binnenmarkts und der Zollunion akzeptieren, nur ihr Stimmrecht
sollen sie verlieren.

Die von Großbritannien so sehnlichst gewünschten engen
Handelsbeziehungen will Tusk zunächst nur sondieren, denn es sei ja
gar nicht klar, was London genau wolle. Auch hier wartet ein Kreis,
der irgendwie zum Quadrat erklärt werden soll: Großbritannien will
aus dem Binnenmarkt raus und dessen Regeln abschütteln, insbesondere
das Gebot, EU-Bürger frei zuwandern zu lassen. Gleichzeitig will
London maximal enge Handelsbande, also eigentlich alles wie bisher.

Die EU folgt aber dem Grundsatz: Nicht-Mitglieder können nicht
dieselben Vorteile haben wie Mitglieder. Der EU-Unterhändler Michel
Barnier machte deutlich, welchen Platz er für Großbritannien sieht:
in derselben Liga wie Kanada. Auch das dürfte für London schwer zu
verknusen sein. Und so sagte denn auch Tusk: «Lasst uns nicht
vergessen, dass die schwierigste Herausforderung noch vor uns liegt.»