Junckers Vision: Ein einziger Kapitän am Steuer der EU Von Michel Winde, dpa

14.02.2018 17:29

Die EU gilt nicht unbedingt als bürgernah. Auf den letzten Metern
seiner Amtszeit will Kommissionschef Jean-Claude Juncker deshalb eine
Debatte über institutionelle Fragen ins Rollen bringen. Kritiker
sehen das Gleichgewicht innerhalb der Union gefährdet.

Brüssel (dpa) - Die EU ist komplex: komplizierte Themen, etliche
Institutionen, undurchsichtige Zuständigkeiten - und alles weit weg
vom Bürger. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude
Juncker, fordert deshalb einen «demokratischen Sprung nach vorn» und
mehr Bürgernähe. Wie das gehen soll? Am Mittwoch hat der Luxemburger
seine Ideen vorgestellt, kommende Woche Freitag diskutieren die
Staats- und Regierungschefs bei einem Treffen in Brüssel darüber.

Welche Ideen hat Kommissionspräsident Juncker?

Die Leitlinien skizzierte Juncker schon im September, als er in
Straßburg seine Rede zur Lage der Union hielt. Darin sprach er sich
für transnationale Wahllisten und die Beibehaltung von
Spitzenkandidaten bei der kommenden Europawahl aus. Beides hält er
noch immer für sinnvoll, wie er am Mittwoch betonte.

2014 hatten die Fraktionen erstmals Spitzenkandidaten mit der
Aussicht auf das Amt des Kommissionschefs aufgestellt. Vergangene
Woche beschlossen die Abgeordneten erneut, auch 2019 nur jemanden in
das Amt zu wählen, der Spitzenkandidat einer Partei war. Die Idee der
transnationalen Wahllisten, über die Bürger künftig auch für
Parlamentarier aus anderen Staaten hätten stimmen dürfen, scheiterte
an den Stimmen der Europäischen Volkspartei.

Ist das alles?

Nein, Juncker brachte außerdem ins Spiel, das Amt des
Kommissionschefs künftig mit dem des Ratspräsidenten zu verschmelzen.
Das wäre ein Quantensprung in Brüssel. «Europa wäre leichter zu
verstehen, wenn ein einziger Kapitän am Steuer wäre», sagte Juncker
2017. Am Mittwoch sprach er von einem «logischen Schritt» und
zeichnete das Szenario eines zerstrittenen Führungsduos. «Das wäre
ein Alptraum, und ich will nicht, dass dieser Alptraum wahr wird.»
Wie genau die Wahl des EU-Präsidenten aussehen sollte, ließ er offen.

Die EU-Kommission, der Juncker vorsteht, macht Vorschläge für neue
EU-Regeln und überwacht auch die Einhaltung der bereits bestehenden.
Ratspräsident Donald Tusk ist Vermittler zwischen den Regierungen der
Mitgliedstaaten und vertritt deren Interessen nach außen.

Was versprechen sich die Befürworter von Junckers Ideen?

Sie sehen in den Änderungen eine Demokratisierung der EU. Ein
einziger Präsident wäre einfacher zu vermitteln als die derzeitige
Doppelspitze. Das Spitzenkandidaten-System stärkt den politischen
Wettbewerb - aber auch das Europäische Parlament, also die einzige
Institution, die direkt von den EU-Bürgern gewählt wird. Es ergäbe

Sinn, wenn die Wähler wüssten, wer Präsident der EU-Kommission werden

könnte, sagte Juncker am Mittwoch. Der kroatische Regierungschef,
Andrej Plenkovic, sagte ebenfalls in Brüssel, das System gäbe
nationalen Debatten zur Europawahl eine «europäischere Dimension».
Derzeit wird der EU-Ratspräsident von den Staats- und Regierungschefs
bestimmt.

Welche Bedenken gibt es?

Mehr Macht für die einen bedeutet weniger Macht für die anderen. In
Brüssel besteht zwar Einigkeit darüber, dass das System des
Spitzenkandidaten nicht mehr umkehrbar ist. Dennoch herrscht im
Europäischen Rat - also unter den Staats- und Regierungschefs -
Skepsis. Der Rat fürchtet einen Machtverlust, wenn der
Spitzenkandidat der stärksten Partei im Parlament als Kommissionschef
gesetzt ist. Außerdem habe das Konzept die Europawahl 2014 nicht
unbedingt belebt. Damals fiel die Wahlbeteiligung mit rund 43 Prozent
auf ein Allzeittief.

Bisher schlägt der Europäische Rat den Kandidaten für das mächtige

Amt des Kommissionschefs vor und muss das Ergebnis der Europawahl nur
«berücksichtigen». Juncker betonte am Mittwoch, auch künftig müss
e
nicht automatisch der Kandidat aus der stärksten Partei zum
Kommissionspräsidenten gewählt werden. Der künftige Kommissionschef
müsse eine Mehrheit im Europäischen Rat und im Parlament haben.

Welche Kritik gibt es an der Idee eines einzigen EU-Präsidenten?

«Das würde zu Enttäuschungen führen», sagte der ehemalige
Ratspräsident Herman Van Rompuy nach Junckers Rede zur Lage der
Union. Ein einzelner könne die Erwartungen an ein solches Amt nicht
erfüllen. Außerdem würde das Gleichgewicht gestört. «In der EU gi
bt
es immer Spannungen zwischen den europäischen Interessen und
den Interessen der Mitgliedsländer.» Die Kommission vertrete
EU-Interessen, der Rat die nationalen.

Die Vorsitzende der Europäischen Grünen, Ska Keller, sieht im
sogenannten Doppelhut derzeit ebenfalls keine Verbesserung. «Der
Präsident der Kommission muss europäische Interessen vertreten und
darf nicht zum Spielball der Interessen der Mitgliedstaaten werden.»

Unter den Staats- und Regierungschefs herrscht wegen des
Spitzenkandidaten ohnehin das Gefühl, Macht einzubüßen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Junckers Vision umgesetzt wird?

Dass die Fraktionen wieder Spitzenkandidaten aufstellen werden, steht
außer Frage. Es ist schwer vorstellbar, dass nicht auch einer von
ihnen Kommissionspräsident wird. Nach EU-Recht wäre auch der
Doppelhut zulässig. Bis Junckers Vision Wirklichkeit wird, könnten
aber noch Jahre vergehen. Er selbst sagte am Mittwoch, damit würde
man den Mitgliedstaaten derzeit zu viel abverlangen.