Einfach einsteigen Von Burkhard Fraune, dpa

14.02.2018 17:57

Der Bundesregierung ist eine Überraschung gelungen: Ihr Vorschlag für

kostenlose Busse und Bahnen lässt Fahrgäste hoffen. Doch die
Umsetzung ist ein langer Weg. Eine Kleinstadt ist ihn gegangen.

Berlin/Templin (dpa) - Fahrscheinloser Busverkehr? Für Detlef Tabbert
ist das nichts Neues. «Haben wir seit über 20 Jahren, die Kanzlerin
kennt es von hier.» Tabbert ist Bürgermeister im brandenburgischen
Templin, bekannt für seine Stadtmauer und das nahe Wochenendhaus
Angela Merkels, die in Templin aufwuchs. Nun hat die Bundesregierung
mit ihrem Vorstoß überrascht, kostenlosen Nahverkehr zu ermöglichen.


Templin liegt 80 Kilometer von Berlin. Es gibt dort Wälder, Seen und
Kopfsteinpflaster, über das ein paar Stadtbusse fahren - in die lange
kaum einer einstieg. So lange, bis 1997 die Stadt die Kosten für den
Bus übernahm und Fahrkarten abschaffte. Ziel: weniger Lärm und Dreck,

mehr Kurgäste. Schon vier Jahre später stiegen 15 Mal so viele
Menschen in den Bus.

Dass sich das Kleinstadt-Beispiel bundesweit wiederholen ließe, ist
momentan zwar illusorisch. Doch der Bund will mit Ländern, Kreisen
und Städten über Modelle nachdenken, Bus- und Bahnfahrten im
Nahverkehr zumindest zeitweise kostenlos anzubieten, damit die Leute
ihre Autos stehen lassen. Doch noch sind viele Fragen unbeantwortet,
wie die Reaktionen zeigen.

Schon jetzt sind in vielen Städten gerade im Berufsverkehr Busse und
Bahnen rappelvoll, wie die Verkehrsunternehmen beklagen. «Ein
kurzfristiger, sprunghafter Fahrgastanstieg würde die vorhandenen
Systeme vollständig überlasten», warnt Jürgen Fenske, Chef der Kö
lner
Verkehrsbetriebe und Präsident des Branchenverbands VDV.

Zusätzliche Trams und U-Bahnen zu bekommen, dauert wegen
Ausschreibungen, Entwicklung und Genehmigung Jahre - ebenso der Bau
möglicher neuer Strecken. Neue Busse sind schneller zu haben, so
lange sie nicht einen Elektroantrieb haben sollen. E-Busse sind noch
in der Erprobung. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) etwa wollen
nach langen Tests erst in diesem Jahr die erste E-Busse anschaffen.

Und soll der Gratis-ÖPNV nur in den Städten mit hoher
Schadstoffbelastung kommen? Das wäre den Verbrauchern kaum
vermittelbar, warnt der Autofahrerclub ADAC. Notwendig seien
einfache, günstige Tarife und ein zuverlässiger Fahrplan in Stadt und
Land. So würden Busse und Bahnen zur Alternative für Pendler.

Der neue ÖPNV wäre im Wortsinn auch nicht kostenlos. Fahrzeuge,
Fahrer und Betriebe müssten ja trotzdem bezahlt werden. Schon jetzt
wird nach Branchenangaben jede Fahrt zu etwa einem Viertel aus
Steuergeld subventioniert. Und schon heute fehle Geld, um die
steigenden Fahrgastzahlen zu bewältigen.

Die Folge: Ausfälle, Verspätungen und überfüllte Fahrzeuge, wie a
uch
die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) kritisiert. «Das
ermuntert Niemanden, das Auto stehen zu lassen, selbst wenn die Fahrt
mit dem Nahverkehr nichts kostet», kritisiert der Vorsitzende
Alexander Kirchner.

Längst kursieren deshalb auch Modelle, Gratis-Fahrten schrittweise
einzuführen, zunächst außerhalb der Stoßzeiten und erst dann
ganztägig, wenn es genug Fahrzeuge gibt. «Noch stärker überfüllte

Busse und Bahnen zu den Spitzenzeiten würden bei den Kunden zu
unglaublicher Frustration führen», sagt Bastian Chlond vom Karlsruher
Institut für Verkehrswesen.

Erstattet der Staat die Fahrpreise vollständig, wären laut
Branchenverband VDV zwölf Milliarden Euro jährlich nötig. Zum
Vergleich: Die gesamten Verkehrsinvestitionen im Bundeshaushalt 2018
liegen bei gut 14 Milliarden Euro. Es müsste an anderer Stelle
gekürzt werden. Ob dazu etwa Diesel-Subventionen von sieben
Milliarden Euro fallen, wie Greenpeace fordert, ist offen.

Denn woher das Geld für den Gratis-ÖPNV kommen soll, haben bisher
weder das Kanzleramt noch das Umwelt- und das Verkehrsministerium
erklärt - sie hatten der EU-Kommission die neue Idee in einem Brief
präsentiert.

Der Bund fürchtet eine Klage aus Brüssel, weil Schadstoff-Grenzwerte
in deutschen Städten nicht eingehalten werden. Soll das Schreiben
allein die Kommission gnädig stimmen? «Nebelkerze» und «Aktionismus
»
schallt es, etwa von Seiten der Grünen - zumal von der Idee keine
Rede im Koalitionsvertrag von Union und SPD die Rede ist, der erst
eine Woche alt ist. Regierungssprecher Steffen Seibert stellt jedoch
klar: «Wir sind bereit, Schritte zu machen.»

Doch wäre es überhaupt gerecht, wenn jeder über seine Steuern Busse
und Bahn mitfinanziert, die er gar nicht nutzt? Wie bei Zwangsabgaben
wie dem Rundfunkbeitrag oder der Ökostrom-Umlage dürften Kritiker
diese Frage auch beim Gratis-ÖPNV aufwerfen.

Der Staat finanziert mit Steuern jedoch tagtäglich Leistungen, die er
gesamtgesellschaftlich für wichtig hält, auch wenn nicht jeder sie in
Anspruch nimmt - Schulen, Opern, Weltraumforschung. Befürworter des
fahrscheinlosen Nahverkehrs argumentieren auch, dass Haushalte unterm
Strich sparen - sofern sie ihr Auto abschaffen und in die Öffis
umsteigen.

In Templin liegen diese Debatten lange zurück. Dort ist zwar seit
2002 Schluss mit der Kostenfreiheit für Fahrgäste. Es bleibt aber
sehr billig: Eine Kurkarte für 44 Euro im Jahr gewährt freie Fahrt.
150 000 Euro schießt die Gemeinde jährlich zu, wie der
Linke-Politiker Tabbert sagt, der sich dennoch über einen
ausgeglichenen Haushalt freuen kann. «Die Vorteile überwiegen: 20
Prozent weniger Autos, weniger Unfälle, mehr Lebensqualität.»