EU-Kommissar: Rückschritte in der Türkei halten an Interview: Ansgar Haase, dpa

17.04.2018 17:03

Empfehlungen machen nur Sinn, wenn sie eine Chance auf Umsetzung
haben: Mit diesen Worten beantwortet der zuständige EU-Kommissar die
Frage, warum seine Behörde nicht den Abbruch der Beitrittsgespräche
mit der Türkei vorschlägt. Kann Präsident Erdogan feiern?

Straßburg (dpa) - In ihrem neuen Türkei-Bericht übt die EU-Kommission

vernichtende Kritik an der Politik des islamisch-konservativen
Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Im Interview der Deutschen
Presse-Agentur spricht der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn (60)
über die politischen Implikationen - und Länder, die auf dem Weg in
die EU deutlich besser vorankommen.

Frage: Herr Hahn, ihr jüngster Bericht zu den Entwicklungen in der
Türkei fällt desaströs aus. Es ist von anhaltenden
Menschenrechtsverstößen und mangelnder Rechtsstaatlichkeit die Rede.
Welche Konsequenzen wird das für den weiteren Umgang der EU mit der
Türkei haben?

Antwort: Die EU-Mitgliedstaaten haben ja bereits auf die gravierenden
Rückschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit reagiert, indem sie
beschlossen haben, keine weiteren Verhandlungskapitel mit der Türkei
zu öffnen. Unser Bericht zeigt auf, dass dieser Rückschritt leider
ein anhaltender Prozess ist. Gerade wird ja der Ausnahmezustand in
der Türkei wieder verlängert. Auch wurde beschlossen, dass die
Beitrittshilfen reduziert werden. Es liegt nun an den
Mitgliedstaaten, den vorliegenden Bericht, der an Deutlichkeit nicht
zu wünschen lässt, zu bewerten.

Frage: Müsste die EU-Kommission jetzt nicht das Aussetzen der
Beitrittsverhandlungen empfehlen? In den Verhandlungsleitlinien
steht, dass dies passieren sollte, wenn die Türkei zum Beispiel
«ernsthaft und anhaltend» gegen die Grundsätze der
Rechtsstaatlichkeit verstößt.

Antwort: Eine derartige Empfehlung macht nur dann Sinn, wenn sie eine
Chance auf Umsetzung hat. Die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer ist
gegen einen Schritt, der über die derzeitigen Maßnahmen hinausgeht.
Diese umfassen, dass die Beitrittsverhandlungen de facto eingefroren
sind sowie die deutliche Anpassung der Vorbeitrittshilfen.

Frage: Macht sich die Kommission nicht unglaubwürdig, wenn sie hart
wegen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit gegen Polen vorgeht, nicht
aber gegen die Türkei? Auch die Türkei bekommt immerhin viel Geld aus
dem EU-Haushalt. Allein aus dem Topf für die sogenannten
Heranführungshilfen stehen dem Land im Zeitraum von 2014 bis 2020
rund 4,45 Milliarden Euro zu.

Antwort: Was die Anpassung der Vorbeitrittshilfen betrifft, hat die
Kommission bereits mehrere Maßnahmen ergriffen: Bereits 2017 haben
wir eine deutliche Umschichtung der Gelder in Bereiche wie Förderung
der Grundrechte und Medienfreiheit, Bildung und Programme wie
Erasmus+ (Bildung) und Horizon (Forschung) vorgenommen. Für die
Periode 2018-2020 haben wir im Rahmen der sogenannten
Halbzeitbewertung eine Reduktion von 40 Prozent vorgesehen.

Frage: Nicht nur die Türkei, sondern auch die Balkanstaaten Albanien,
Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien
wollen in die EU. Kommen diese Länder mit den geforderten
Anpassungsprozessen besser voran?

Antwort: So ist es. Zwar gibt es auch in diesen Ländern noch viel zu
tun, gerade im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, aber alle Staaten
haben in den letzten Jahren mehr oder weniger große Fortschritte
gemacht. Es gibt bei den Westbalkan-Ländern auch ein klares
Bewusstsein, dass die bestehenden Defizite die Entwicklung der
Gesellschaft hemmen und ernsthafte Hindernisse auf dem Weg zum
EU-Beitritt sind. Daher gibt es prinzipiell bei allen Ländern der
Westbalkan-Region die klare Bereitschaft, an der Behebung dieser
Defizite zu arbeiten. Wir sehen eine unterschiedlich rasche, aber
anhaltende Umsetzung von Reformen.

Die Kommission hat heute diese Fortschritte anerkannt und
grundsätzlich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der
ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und Albanien empfohlen.
Die endgültige Entscheidung darüber trifft allerdings der
EU-Ministerrat. Daher sind auch diese beiden Länder gut beraten, den
Reformprozess fortzusetzen und zu verstärken.

Frage: Um die Balkanstaaten zu zügigeren Reformen zu bewegen, hat die
EU-Kommission jüngst mit der Möglichkeit eines EU-Beitritts bis 2025
gelockt. Ist das wirklich ein realistisches Datum?

Antwort: Es war von vornherein klar, dass dieses Datum rein indikativ
zu verstehen ist. Es zeigt, dass die Beitrittsperspektive real ist
und soll eine Motivation für die Westbalkanländer sein, ihre
Anstrengungen in wichtigen Reformbereichen zu verstärken. Wie
realistisch dieses Datum ist, liegt in deren Händen. Und aufgrund der
strikten Konditionalität des Prozesses gibt es natürlich keine
Garantie.

Frage: Wenn es ein Land schaffen kann, welches wäre es dann?

Antwort: Das kann ich zur Zeit nicht voraussehen. Es wird jenes Land
sein, welches als erstes alle Bedingungen basierend auf den klar
definierten Kriterien erfüllt haben wird. Dabei geht es nicht nur um
Übernahme des EU-Rechtsbestandes, sondern auch um Umsetzung von
Reformen und das Erreichen konkreter, sichtbarer Resultate in
wichtigen Bereichen wie Kampf gegen die Korruption, unabhängige
Justiz, Verbesserung der nachbarschaftlichen Beziehungen. Kein Land
wird beitreten können, das noch offene Grenzkonflikte mit seinen
Nachbarn hat. Das gilt nicht nur für Serbien und Kosovo, sondern für
alle Kandidaten und beitrittswerbenden Länder.

ZUR PERSON: Der Österreicher Johannes Hahn ist seit 2010 Mitglied der
EU-Kommission. Nach vier Jahren als EU-Kommissar für Regionalpolitik
bekam er 2014 die Zuständigkeit für die Europäische
Nachbarschaftspolitik und die Erweiterungsverhandlungen. Hahn ist
Mitglied der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Für
sie war er in seiner Heimat unter anderem Wissenschaftsminister. Hahn
ist 60 Jahre alt und Vater eines erwachsenen Sohnes.