«Mercrons» schwere Geburt: Merkel und Macron ringen um EU-Reform Von Sebastian Kunigkeit und Georg Ismar, dpa

19.06.2018 03:55

Wochen verhandelt, nun das Finale: Gelingt beim Treffen von Kanzlerin
Merkel und Präsident Macron im Gästehaus der Bundesregierung in
Meseberg der große Wurf in Sachen EU-Reform? Bei einem Thema erhöht
sich gerade noch einmal massiv der Handlungsdruck - für Merkel.

Meseberg (dpa) - Was für Zeiten. Und plötzlich rennt der einst so
unangefochtenen Angela Merkel die Zeit davon. «Scheitert der Euro,
scheitert Europa», lautete einer ihrer Kernsätze. Da in stürmischen
Zeiten jederzeit neue Krisen drohen können, will die Kanzlerin mit
Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron mit einem Reformpaket für
mehr Sicherheit sorgen. Doch beim Gipfeltreffen in Schloss Meseberg
geht es für Merkel um noch viel mehr. Erst brauchte Macron Merkels
Hilfe, nun braucht Merkel Macron, um ihre Kanzlerschaft zu retten.

AUSGANGSPUNKT SORBONNE: In einer viel beachteten Rede an der Pariser
Sorbonne-Universität hat der französische Präsident im September 2017

seine Vorschläge zur «Neugründung eines souveränen, vereinten und
demokratischen Europas» vorgelegt. Macron will einen europäischen
Finanzminister und einen Haushalt für die Eurozone, der auf längere
Sicht mit Steuereinnahmen finanziert werden könnte. In der
Verteidigungspolitik soll Europa mit einem speziellen Budget, einer
Interventionstruppe und einer Einsatzdoktrin schlagkräftiger werden.

DEUTSCHES ZAUDERN: Erst scheiterte Jamaika, dann kam es im März doch
wieder zur großen Koalition - Union und SPD setzten auf Druck des
dann aber zurückgetretenen SPD-Chefs Martin Schulz das Thema Europa
an die erste Stelle des Koalitionsvertrags. Doch beiden sitzt die AfD
spürbar im Nacken. Das bremst, zumal allein Deutschland wegen des
Abschieds Großbritanniens aus der EU geschätzt über zehn Milliarden
Euro mehr für die EU-Ausgaben aufbringen muss. Aber der Westen droht
gerade zu zerbrechen. Es geht darum, den Strafzöllen von US-Präsident
Donald Trump die Stirn zu bieten und neue Migrationskrisen zu
bewältigen. Und man will den Aufstieg populistischer Parteien bremsen
- ein starkes, soziales Europa, um dem Nationalismus die Stirn zu
bieten.

VIER BAUSTELLEN: «Deutschland und Frankreich wollen gemeinsam
Vorschläge erarbeiten, die dann in den europäischen
Meinungsbildungsprozess einfließen», sagt Regierungssprecher Steffen
Seibert. Zum endgültigen Showdown kommt es am 28./29. Juni beim
EU-Gipfel in Brüssel. Es geht um vier Felder: Reform der Wirtschafts-
und Währungsunion, Stärkung der Außen- und Verteidigungspolitik,
gemeinsame Asylpolitik und mehr Forschungskooperation, vor allem bei
dem Thema künstliche Intelligenz. Falls beim Gipfel keine Durchbrüche
gelingen, passiert vor der Europawahl 2019 wohl nichts mehr.

DER GRUNDDISSENS: Zwar hat die Eurozone in der Finanzkrise ihren
Werkzeugkasten erweitert, doch noch immer gilt die Währungsunion als
nicht stabil genug. Das habe man bei der Unsicherheit über die
italienische Regierungsbildung gemerkt, als auch die Zinssätze für
Staatsanleihen manch anderer Euro-Staaten nach oben gegangen seien,
heißt es in Paris. In mehr als 50 Verhandlungsstunden rangen die
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bruno Le Maire in den
vergangenen Wochen um Kompromisse. Die Pariser Ideen riefen in
Deutschland Sorgen vor einer Transferunion auf den Plan, sprich: dass
deutsches Geld nach Südeuropa fließt, um zum Beispiel mit neuen
Investitionen den Süden Italiens zu stärkern, eine Hochburg der
populistischen «Fünf Sterne»-Bewegung. «Für Paris stehen Schutz u
nd
Solidarität im Vordergrund, während es für Berlin in erster Linie um

Selbstverantwortung und Kontrolle geht», analysierte Claire Demesmay
von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

ZANKAPFEL EUROZONENHAUSHALT: Aus französischer Sicht soll dieser neue
Geldtopf Investitionen finanzieren und damit das wirtschaftliche
Gefälle zwischen den 19 Euro-Staaten reduzieren. Zum anderen soll
Ländern bei wirtschaftlichen Schocks geholfen werden. Macron wollte
ursprünglich ein Budget im Umfang von mehreren Hundert Milliarden
Euro sowie einen europäischen Finanzminister. Das wird beides so
nicht kommen - zumal es auch aus einer Reihe anderer Staaten aus der
Nordhälfte der EU Bedenken gibt. Die Bundesregierung ist offen für
die kleine Lösung, einen «Investivhaushalt». Merkel spricht aber nur

von Mitteln im unteren zweistelligen Milliardenbereich. Scholz setzt
auf Einnahmen aus einer Finanztransaktionssteuer für neue Spielräume
- doch die kommt nicht vorab. Und er will eine Stärkung der
Arbeitslosenversicherungen, um soziale Abstiegsängste zu mindern.

WÄHRUNGSFONDS: Merkel will den europäischen Rettungsschirm ESM zu
einem Europäischen Währungsfonds ausbauen, um wirtschaftlich
angeschlagenen Ländern einfacher zu helfen, auch mit kürzer laufenden
Krediten. Sie hat da zum Beispiel Irland im Sinn, wenn das Land durch
den Ausstieg Großbritanniens aus der EU Probleme bekommen sollte.
Paris sieht das positiv, pocht aber auf das Eurozonen-Budget. Nun
liegt nach Angaben aus Kreisen des Élyséepalastes ein Vorschlag auf
dem Tisch, der eine Brücke sein könnte: Wenn ein Land in
Schwierigkeiten gerät, könnte sein Beitrag zum Eurozonen-Budget
vorübergehend vom ESM übernommen werden, und es zahlt das später
zurück.

BANKENUNION: Bei der Vollendung von einheitlicheren Bankenregeln
(Bankenunion) sträubt sich Berlin gegen eine Einlagensicherung, dass
also Geldhäuser für Banken in anderen EU-Staaten mit geradestehen
müssen. Allerdings könnte der ESM künftig als letztes Auffangnetz bei

Bankenpleiten einspringen («Common Backstop») - also mit öffentlichem

Geld kriselnde Banken gerettet werden - hier hat sich Berlin bewegt.

MERKELS «MIGRATIONSDRUCK»: Durch das De-facto-Ultimatum der CSU von
Innenminister Horst Seehofer für EU-Vereinbarungen, damit woanders
schon registrierte Asylbewerber nach einer Abweisung an der deutschen
Grenze zurückgenommen werden, muss Merkel hier liefern. Und braucht
Macrons Hilfe. Beide wollen insgesamt eine Reform des Asylsystems.
Die sogenannten Dublin-Vereinbarungen funktionieren nicht mehr,
Länder wie Italien mit der neuen nationalistischen Regierung machen
die Schotten dicht. Aber der Graben ist tief in Europa: So sperren
sich auch Länder wie Ungarn gegen eine Verteilung von Schutzsuchenden
innerhalb Europas. Merkel und Macron wollen die Grenzschutzbehörde
Frontex zu einer «europäischen Grenzpolizei» ausbauen und setzen sich

für eine europäische Flüchtlingsbehörde ein - zu oft weiß Land B

nicht, was Land A schon über den Flüchtling weiß. Zugleich wollen sie

eine engere Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern.

VERTEIDIGUNGSPOLITIK: Merkel hat sich offen gezeigt für Macrons
Vorschlag einer Interventionsinitiative - mit einer engeren
Zusammenarbeit zwischen Generalstäben verschiedener EU-Länder will
Paris eine gemeinsame strategische Kultur fördern. Perspektivisch
schwebt Macron sogar eine gemeinsame Interventionstruppe vor. Doch
Merkel sprach sich dafür aus, dies innerhalb der EU-Strukturen zu
halten. Das will Macron gerade nicht, weil er dort Bremser fürchtet.
Und Merkel will praktische Fortschritte - dass zum Beispiel die in
der EU benutzten rund 180 Waffensysteme auf 30 reduziert werden. Dann
könnten Soldaten EU-weit für die gleichen System ausgebildet werden -
was gemeinsame Einsätze deutlich erleichtern würde. Frankreich und
Deutschland wollen hier mit der gemeinsamen Entwicklung eines neuen
Kampfflugzeugs und eines neuen Panzers mit gutem Beispiel vorangehen.