Die Raute vor dem Sturm Von Christiane Jacke und Martina Herzog, dpa

24.06.2018 21:08

In Asylfragen ist die EU maximal zerstritten. Eine rasche Lösung ist
auch nach dem Brüsseler Treffen nicht in greifbarer Nähe. Italiens
neuer Regierungschef will für Wirbel sorgen - erntet aber nur
Schulterzucken.

Brüssel (dpa) - Angela Merkel hat die Ruhe weg, zumindest äußerlich.

Die Hände zur Kanzlerinnenraute geformt dankt sie artig dem Gastgeber
des sonntäglichen Brüsseler Asyltreffens, EU-Kommissionschef
Jean-Claude Juncker. Als wackle nicht daheim ihre Regierung, als säße
ihr nicht Innenminister Horst Seehofer (CSU) im Nacken, der mehr als
eine Rechnung offen hat mit Merkel.

Vier Stunden und eine, wie Belgiens Premier Charles Michel es nennt,
«intensive» Diskussion später, steht Merkel wieder vor den Kameras,
ein Blatt in den Händen. «Wir sind uns alle einig, dass wir die
illegale Migration reduzieren wollen, dass wir unsere Grenzen
schützen wollen, und dass wir alle für alle Themen verantwortlich
sind.» Soll heißen: Alle Staaten sollen sich für den Grenzschutz im
Süden verantwortlich fühlen. Und alle sollen sich für die Migranten
zuständig fühlen, von denen viele einfach weiterziehen nach Norden.
Konkreter wird es nicht.

Für den deutschen Asylstreit verheißt das nichts Gutes. Wenn Merkel
nicht liefert bis zum EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag und zum
Beispiel andere EU-Länder überzeugt, Deutschland wieder leichter
Migranten abzunehmen, will Seehofer deren Zurückweisung an der Grenze
anordnen. Sie würde ihn wohl rauswerfen, was das Ende der Koalition
bedeuten dürfte. Ganz davon zu schweigen, dass ein deutscher
Alleingang die europäische Zusammenarbeit in Asylfragen aufs Spiel
setzen würde: Wenn Deutschland mit der Zurückweisung von Migranten
begänne, würden wohl andere folgen. Wenn andere folgten, würden
Länder wie Italien die Ankömmlinge kaum noch registrieren.

Einer, der mindestens ebenso eifrig wie Merkel den Elefanten im Raum
wegredet, ist Luxemburgs Premier Xavier Bettel. «Es geht hier nicht
um das Überleben einer Kanzlerin!», wehrt er ab auf die Frage eines
Journalisten, sondern um europäische Lösungen. Merkels französischer

Verbündeter Emmanuel Macron warnt die Europäer vor dem Abgrund: «Wir

haben Werte. Sie haben uns geformt und jedes Mal, wenn wir sie
verraten haben, haben wir Schlimmeres verursacht.» Nach dem Treffen
betont er wortreich die gemeinsame Haltung der Europäer zu ohnehin
nicht strittigen Punkten.

Doch nicht jeder wirkt ähnlich alarmiert. Österreichs junger Kanzler
Sebastian Kurz, der sich bestens versteht mit Seehofer, ist ganz
angetan von der «gewissen Dynamik» der Situation. Die Begrenzung der
Migration sei ja inzwischen das gemeinsame Ziel. «Und allein das ist
schon Bewegung genug», sagt Kurz und kann sich eine Spitze nicht
verkneifen: «2015 war das nicht so.»

Italiens neuer Regierungschef Giuseppe Conte hat ein Papier
mitgebracht, das einen «radikalen Wandel» einläuten soll. Die
Dublin-Regelung, nach der Migranten in dem Land einen Asylantrag
stellen müssen, das sie zuerst innerhalb der EU betreten, will er
abschaffen. Flüchtlinge will er in «Schutzzentren» in Transitländer
n
unterbringen, so dass sie gar nicht erst nach Europa kommen. Ganz neu
ist das alles nicht und sein Nachbar im Osten, Griechenlands
Ministerpräsident Alexis Tsipras, lässt das auch deutlich
durchblicken. «Was ist der italienische Plan?», fragt er lachend auf
eine Frage nach dem Papier und fügt dann etwas ernsthafter an: «Ich
denke, die meisten dieser Vorschläge waren Vorschläge, die wir schon
versucht haben umzusetzen.»

Es deutet alles auf Abschottung hin, nach dem Brüsseler Treffen und
vor dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag: eine Aufrüstung der
EU-Außengrenzen und die Einrichtung von Asylzentren jenseits der EU.
Doch selbst wenn sich die EU-Staaten noch in dieser Woche auf
Schritte in diese Richtung einigen sollten - was für Europa und die
europäische Idee folgenreich wäre - ob Merkel das am Ende hilft, ist
fraglich.

Die CSU triezt sie bekanntlich wegen einer anderen Sache. Seehofer
geht es um Schutzsuchende, die erst in einem anderen EU-Land um Asyl
bitten, dann nach Deutschland weiterreisen und hier noch mal Asyl
beantragen. Diese Menschen will er an der deutschen Grenze abweisen.
Und zwar notfalls im nationalen Alleingang. Wie genau das praktisch
gehen sollte - ob er zum Beispiel flächendeckende Grenzkontrollen
anstrebt, damit es nicht nur Zufallstreffer gibt - all das verrät
Seehofer nicht.

Nach den «Dublin»-Regeln der EU ist zwar vorgesehen, solche
Asylsuchenden ins Ersteinreise-Land zurückzuschicken - allerdings in
einem geordneten Verfahren und nicht per direkter Zurückweisung, wie
Seehofer es nun will. Das System funktioniert aber schon lange nicht
mehr. Damit begründet Seehofer seinen plötzlichen Ausbruch.

Trotzdem ist verwunderlich, dass er ausgerechnet jetzt damit kommt -
noch dazu mit dieser Wucht. Die Zeiten, in denen täglich Tausende
Menschen über die deutsche Grenze kamen, sind lange vorbei.

Und es geht hier ohnehin um eine vergleichsweise überschaubare Zahl
von Fällen. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagt, 2017
seien in Deutschland 40 000 Flüchtlinge registriert worden, die schon
in anderen Ländern einen Asylantrag gestellt hätten. Das also soll
der Grund sein, für den die CSU die Koalition platzen lassen würde?

Die CSU bangt um die absolute Mehrheit bei der Landtagswahl im
Oktober und fürchtet die AfD. Und dass die CSU-Spitze nicht
sonderlich mit Merkel und ihrem Kurs harmoniert, ist lange bekannt.
Auch in Merkels Umfeld haben manche den Eindruck, die CSU wolle die
Kanzlerin fast um jeden Preis aus dem Amt hebeln. Egal, was sie tut.

Also: Selbst wenn Merkel es schafft, mit anderen EU-Staaten
bilaterale Abkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen zu schließen,
hören die Attacken aus Bayern dann auf? Sehr fraglich. Kurzzeitig
vielleicht, doch auf lange Sicht scheint der Riss zwischen Merkel und
der CSU-Spitze kaum zu heilen. Dazu ist zu viel kaputt gegangen.