Beim Brexit sitzen beide in der Zwickmühle Von Verena Schmitt-Roschmann und Christoph Meyer, dpa

20.07.2018 16:27

Nur achteinhalb Monate vor dem EU-Austritt der Briten ist immer noch
nicht sicher, ob die Sache einigermaßen glimpflich ausgeht. Und das
liegt nicht nur am Londoner Regierungschaos.

London/Brüssel (dpa) - Landen auch im April noch britische Flieger in
Düsseldorf? Gibt es noch italienischen Mozzarella in Manchester?
Können deutsche Autobauer stressfrei produzieren? Lauter wichtige
Brexit-Fragen, die bei den Verhandlungen über den britischen
EU-Austritt mit auf dem Tisch liegen.

Die britische Premierministerin Theresa May hat nun endlich ihre
Pläne vorgelegt, wie ihr Land auf Dauer mit der Europäischen Union
Handel treiben und zusammenarbeiten will. Allerdings ist nicht nur
sie selbst damit tief in den politischen Schlamassel geschlittert.
Sie bringt auch die EU aus diversen Gründen in die Zwickmühle. Am
Freitag haben die 27 bleibenden Staaten beraten, wie sie damit
umgehen. Es ist ein außerordentlich heikles Unterfangen.

Was schlägt May der EU vor?

Vor zwei Wochen wagte sich die Premierministerin nach langem Zögern
aus der Deckung und verpflichtete ihr Kabinett auf eine offizielle
Brexit-Verhandlungslinie: Kern ist eine gemeinsame Freihandelszone
für Waren mit der EU. Dafür will sich London weiter an europäische
Produktstandards halten. Zusammen mit einem komplexen Zollabkommen
soll dies Warenkontrollen an den Grenzen zur EU unnötig machen und
der Wirtschaft Ärger und Wartezeit ersparen. Doch will Großbritannien
bei Dienstleistungen eigene Wege gehen und auch eigene
Freihandelsabkommen mit Ländern wie den USA oder China schließen.
Zudem sollen EU-Bürger nicht mehr ohne Weiteres einwandern können.

Insgesamt bewegte sich May damit auf eine «weichere» Variante des
Brexit zu - das sehen auch viele in Brüssel. Mays Vorschlag laufe auf
«ein modernes Handelsabkommen» hinaus, sagt Guntram Wolff von der
Denkfabrik Bruegel.

Warum ist das ein Problem für die EU?

Ein Handelsabkommen bietet auch die EU - doch für viele klingt Mays
Freihandelszone nach mehr: eine Art Binnenmarkt nur für Güter. Und
das schließt die EU bisher aus. Ihr Mantra lautet: Die vier
Freiheiten des Binnenmarkts gibt es nur im Paket, nämlich den freien
Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und die Freiheit der
Bürger, zu leben und zu arbeiten, wo sie wollen. Dass sich May nur
den freien Warenverkehr herauspickt, aber die Freizügigkeit beenden
will, widerspricht der bisherigen roten Linie der EU. EU-Unterhändler
Michel Barnier betonte diese Haltung am Freitag unmissverständlich.

«Wenn die EU daran festhält, dann funktioniert das ganze May-Modell
nicht», sagt Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft in
Köln. Er rät der EU, «das Dogma der vier Freiheiten» notfalls zu
überdenken, allerdings nur, wenn London weitere Zugeständnisse macht.
«Da muss noch mehr von britischer Seite kommen», sagt Matthes.

Gibt es dafür eine Chance?

Derzeit sieht es so gar nicht danach aus. Die Brexit-Hardliner im
britischen Parlament haben diese Woche mit einer Reihe von
Entscheidungen den Spielraum für May eingeschränkt und ihre für die
EU bereits schwierigen Vorschläge noch schwieriger gemacht. May ließ
es geschehen, weil sie um ihre politische Existenz bangt. Aus Zorn
über ihren Plan sind Brexit-Minister David Davis und Außenminister
Boris Johnson zurückgetreten, und vor allem Johnson macht nun kräftig
Stimmung gegen May. Die Befürworter einer engen Bindung an die EU
sind ihrerseits unzufrieden. Mays Position dazwischen ist extrem
wackelig. So muss sich die EU entscheiden: Versetzt sie der
Regierungschefin den Stoß in den politischen Abgrund? Oder überdenkt
sie die eigenen roten Linien?

Wie befreit sich die EU aus dem Dilemma?

Erst einmal gar nicht. Barnier betonte am Freitag, das von May
vorgelegte Weißbuch lasse noch viele Fragen offen - und forderte
Großbritannien auf, in der kommenden Woche an weiteren Vorschlägen zu
arbeiten. Vor dem Ministertreffen hatten EU-Diplomaten gesagt, es sei
ja schön, dass Großbritannien nun endlich einen Vorschlag habe. Aber
selbst werde man nicht Position beziehen. Denn in den
Brexit-Verhandlungen gehe es vorerst um den Austrittsvertrag - nicht
um die langfristigen Beziehungen, die die EU erst während einer knapp
zweijährigen Übergangsphase nach dem Brexit vertraglich regeln will.
Vorher will die EU nur eine luftige politische Erklärung. May
hingegen braucht handfeste Zukunftsaussichten schon vor der Trennung.

Geht das gut aus?

Das Risiko eines ungeordneten Brexits ohne Vertrag bestehe fort, sagt
Bruegel-Chef Wolff. Die EU-Kommission hat gerade alle Betroffenen
gemahnt, sich besser auf ein solches «No-Deal-Szenario» ohne
Übergangsphase vorzubereiten, auch genannt «Sturz in den Abgrund».
Doch wollen beide Seiten Chaos für Bürger und Wirtschaft unbedingt
vermeiden. Auch Barnier sagte am Freitag, man müsse auf alle
Szenarien vorbereitet sein. Derzeit gebe es jedoch noch genügend
Zeit, um im vorgegebenen Zeitrahmen bis Oktober einen Einigung
auszuarbeiten.

Könnte es ein zweites Referendum geben?

Kommt es wirklich zum Kompromiss mit Brüssel, folgt die Frage, wie
sich das britische Parlament dazu stellt. Angesichts der knappen
Mehrheitsverhältnisse könnten sowohl die Brexit-Hardliner als auch
die EU-freundlichen Konservativen einen Deal verhindern. Je länger
das Patt im Parlament andauert, desto lauter wird der Ruf nach einem
zweiten Referendum werden - nach der ursprünglichen Volksabstimmung
von 2016. Oppositionsabgeordnete, aber auch Mitglieder aus Mays
konservativer Fraktion fordern das. Noch sind aber sowohl die
Regierung als auch Labour-Chef Jeremy Corbyn strikt dagegen.