Bundesregierung blickt sorgenvoll auf Brexit-Verhandlungen

20.07.2018 16:57

Die Brexit-Verhandlungen kommen in entscheidenden Punkten nicht
voran. Ist der Regierung in London bewusst, was sie mit einem
Scheitern riskiert? In Brüssel wird man mehr und mehr nervös.

Brüssel (dpa) - Die Bundesregierung blickt sorgenvoll auf den Verlauf
der Brexit-Verhandlungen und hält auch einen ungeregelten Austritt
Großbritanniens aus der EU für möglich. «Wir können derzeit nicht
s
ausschließen», sagte Europastaatsminister Michael Roth (SPD) am
Freitag am Rande eines EU-Treffens zu den Verhandlungen in Brüssel.
Man arbeite hart daran, dass es zu einem möglichst «weichen Brexit»
komme. Angesichts der voranschreitenden Zeit müsse man sich
allerdings auch auf andere Szenarien vorbereiten.

Bei dem Treffen in Brüssel mussten die 27 verbleibenden EU-Staaten
erneut festhalten, dass die Verhandlungen in entscheidenden Punkten
nicht vorankommen. Was die irische Grenzfrage angehe, gebe es in den
Gesprächen mit der britischen Regierung noch immer keinen
substanziellen Fortschritt, sagte der österreichische
EU-Ratsvorsitzende Gernot Blümel. Gleichzeitig sei aber klar, dass es
nur dann eine Einigung über einen Ausstiegsvertrag geben könne, wenn
es einen «Backstop» gebe.

Damit ist ein Plan gemeint, der politisch heikle Kontrollen zwischen
dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland verhindern soll,
wenn Großbritannien die europäische Zollunion und den gemeinsamen
Binnenmarkt verlässt.

EU-Unterhändler Michel Barnier forderte Großbritannien auf, in der
kommenden Woche an Vorschlägen zu arbeiten. Es blieben nur noch 13
Wochen, um eine Einigung zu finden.

Die britische Premierministerin Theresa May schob die Verantwortung
hingegen nach Brüssel. Es sei Zeit, dass die EU ihre Position
weiterentwickele und «nicht umsetzbare» Vorschläge verwerfe, sagte
sie laut einer vorab verbreiteten Rede. Den Vorschlag der EU,
Nordirland solle im Notfall enger an Brüssel gebunden bleiben als der
Rest des Vereinigten Königreichs, lehnte May erneut strikt ab. Weder
sie noch das britische Parlament würden das jemals akzeptieren.

Großbritannien will die EU nach derzeitigem Stand am 29. März 2019
verlassen. Seit gut einem Jahr verhandeln beide Seiten über einen
Austrittsvertrag. Wichtige Eckpunkte stehen schon und man ist sich
einig, dass nach dem Brexit in einer Übergangsphase bis Ende 2020
zunächst fast alles bleiben soll wie bisher. Allerdings wird es den
Vertrag nur geben, wenn auch die noch offenen Knackpunkte geklärt
werden.

Wenn es keine Übereinkunft gibt, scheidet Großbritannien ungeregelt
aus der EU aus. Dies könnte schwerwiegende wirtschaftliche
Konsequenzen haben.

Als besonders schwierig gilt die Frage, wie Grenzkontrollen zwischen
dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland vermieden werden
können. Dafür gibt es noch keine für beide Seiten akzeptable Lösung
.

Zudem ist umstritten wie die künftigen Handelsbeziehungen gestaltet
werden sollten. London will eine Freihandelszone für Waren und
landwirtschaftliche Produkte, aber nicht für Dienstleistungen.

Staatsminister Roth machte am Freitag deutlich, dass die
Bundesregierung diesen Vorschlag sehr kritisch sieht. Die jüngst in
einem sogenannten Weißbuch präsentierten Vorschläge der Briten
stünden zum Teil im Widerspruch zu dem, was die EU in ihren
Leitlinien zu den Verhandlungen festgelegt habe, sagte Roth.
Leitlinien seien keine roten Linie, aber es gebe noch «sehr, sehr
viele Fragen».

EU-Unterhändler Barnier äußerte sich ähnlich. Er verwies darauf, da
ss
die Vorschläge aus London dazu führen könnten, dass über
Großbritannien Lebensmittel in die EU gelangen, die nicht die
EU-Standards erfüllen. Zudem stellte er infrage, ob es nicht
grundsätzlichen wirtschaftlichen Interessen der EU-Staaten
widersprechen würde, wenn britische Unternehmen zwar die Vorteile
einer Zollunion genießen, zugleich aber im Dienstleistungsbereich
ungestraft unlauteren Wettbewerb betreiben können. Unklar ist nach
Ansicht von Barnier auch, ob die von Großbritannien gewünschten
Zollvereinbarungen juristisch überhaupt möglich wären.