Ein Jahr Sorbonne-Rede: Macron steigert Druck in Europa Von Christian Böhmer und Thomas Lanig, dpa

25.09.2018 17:33

Vor genau einem Jahr forderte der französische Staatschef Macron in
der Sorbonne-Universität die Neugründung Europas. Doch
Rechtskonservative und Populisten steuern in eine andere Richtung.

Paris/Berlin (dpa) - Ein einsames Schiff auf dem Meer - bei Sturm und
bei Sonnenschein. Das ist auf einem großen Wandteppich im
Wintergarten des Pariser Élyséepalastes zu sehen. Manche
interpretieren das Werk des zeitgenössischen Künstlers Pierre
Alechinsky als eine Anspielung auf die schwierige Lage von Hausherr
Emmanuel Macron. An diesem Mittwoch jährt sich der Tag, an dem der
französische Präsident in der Sorbonne-Universität seinen flammenden

Appell zur «Neugründung eines souveränen, vereinten und
demokratischen Europas» lancierte.

Er forderte einen europäischen Finanzminister und einen Haushalt für
die Eurozone, der auf längere Sicht mit Steuereinnahmen finanziert
werden könnte. Auch in der gemeinsamen Verteidigungspolitik machte
der frühere Investmentbanker Druck - und schlug eine
Interventionstruppe vor.

Das Bild hat sich dramatisch gewandelt: Italien hat eine
Populistenregierung, in Österreich regiert die FPÖ mit. Europa
streitet über die Migration und den Brexit, also den bevorstehenden
britischen EU-Ausstieg. Eine umfassende Eurozonen-Reform lässt auf
sich warten, auch wenn Experten diese als notwendig erachten.

Macron steht seit der Affäre um seinen früheren Sicherheitsmann
Alexandre Benalla unter Druck. Die Beliebtheitswerte sinken. Auch der
Staatschef selbst räumt ein, dass der «Kontext schwierig» sei. Aber
gerade weil Europa in Gefahr sei, müsse man «vorschlagen, sich
unablässig engagieren und alles umgestalten», meinte er unlängst beim

EU-Gipfel in Salzburg. Vieles sei bisher erreicht worden. «Und dieser
Kampf wird weitergehen», lautet sein Credo.

Im Élyséepalast wird das Thema «Après-Sorbonne» detailgenau verfo
lgt:
Macron habe 49 Einzelvorschläge gemacht. Bei 22 davon, also knapp der
Hälfte, sei eine Einigung erreicht oder in Sicht, beispielsweise beim
EU-Urheberrecht, bilanzieren Berater. 18 Vorhaben seien zwar auf den
Weg gebracht, aber ein Kompromiss stehe noch aus. Darunter sei eine
faire Besteuerung der Digitalwirtschaft oder der Eurozonen-Haushalt.
In den restlichen neun Bereichen würden Arbeiten vorbereitet.
«Ergebnisse sind möglich», lautet das Fazit im Kreis der oft
übermüdet wirkenden Präsidentenhelfer.

Macron lässt unterdessen nicht locker, tourt durch die europäischen
Hauptstädte, um Verbündete für seinen Reformkurs zu finden. Beim
Amtsantritt vor 16 Monaten war der Ex-Wirtschaftsminister noch sehr
stark auf Deutschland und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) konzentriert.
Auch dieses Bild hat sich gewandelt. Das mag daran liegen, dass es
nach der Sorbonne-Rede in Berlin zwar viel Wohlwollen, aber wenig
Konkretes gab.

Dass nach der Bundestagswahl und der absehbar schwierigen
Regierungsbildung einige Zeit vergehen würde, war allen klar. Sorgen
machte man sich in Paris vor allem wegen der FDP, die im Wahlkampf
eher EU-kritische Töne angeschlagen hatte. Als dann endlich im März
die neue große Koalition in Berlin stand, und der damalige
Noch-SPD-Chef Martin Schulz ein feierliches Bekenntnis zu Europa in
den Koalitionsvertrag schreiben ließ, schien es endlich geschafft. 

Es dauerte aber noch einmal drei Monate, bis die deutsch-französische
Erklärung von Meseberg den Kurs der beiden EU-Schwergewichte
festlegte. Macron verbuchte es als einen großen Erfolg, dass
Deutschland «sein» Eurozonen-Budget unterstützt, auch wenn dieses in

die bisherigen Haushaltsstrukturen eingebettet werden soll.

Besonders gut laufe die Initiative im Hinblick auf die Verteidigung,
heißt es mit gewissem Stolz in Paris. Vor drei Monaten vereinbarten
neun EU-Staaten, unter ihnen auch Austrittskandidat Großbritannien,
den Aufbau einer neuen Militärkooperation, um bei Krisen schneller
reagieren zu können. Macrons Ziel ist es, Europa unabhängiger vom
großen Nato-Partner USA zu machen. «Europa kann seine Sicherheit
nicht mehr allein den Vereinigten Staaten anvertrauen», schärfte er
im August seinen Diplomaten ein.

Der Staatschef hat die Europawahl in acht Monaten bereits fest im
Blick. Sein Lieblingsgegner: der rechtskonservative ungarische
Regierungschef Viktor Orban. Macron lässt keine Gelegenheit aus,
gegen den Kontrahenten aus Budapest auszuteilen. Das Votum des
Europaparlaments für ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn wurde in
der französischen Machtzentrale auch deshalb als Erfolg gewertet.
Macron wolle vor der Wahl die klassische europäische Rechte spalten,
meinen Hauptstadt-Insider. Das kann der deutschen Kanzlerin kaum
gelegen kommen - denn Orban gehört wie sie zur konservativen
Europäischen Volkspartei (EVP).