EuGH: Polen muss Zwangspensionierung von Richtern stoppen Von Ansgar Haase und Natalie Skrzypczak, dpa

19.10.2018 18:36

Schallende Ohrfeige für Polen: Das höchste Gericht der EU erlässt im

Streit um die Rechtsstaatlichkeit in dem Land eine einstweilige
Anordnung. Hält sich die Regierung in Warschau daran?

Luxemburg/Warschau (dpa) - Polen muss die umstrittene
Zwangspensionierung von Richtern mit sofortiger Wirkung stoppen. Eine
entsprechende einstweilige Anordnung erließ am Freitag der
Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Die Entscheidung gilt sogar
rückwirkend. Das bedeutet, dass bereits betroffenen Richtern
mindestens bis zum abschließenden EuGH-Urteil eine Fortsetzung ihrer
Arbeit ermöglicht werden muss. Auch Nachbesetzungen dürften nicht
mehr erfolgen.

Die zuständige EuGH-Vizepräsidentin Rosario Silva de Lapuerta
begründete die Entscheidung damit, dass die neuen polnischen
Regelungen theoretisch «das Grundrecht auf Zugang zu einem
unabhängigen Gericht in nicht wiedergutzumachender Weise beschädigen»

könnten. Deswegen müssten sie bis zu dem Urteil in dem Fall
ausgesetzt werden.

Die einstweilige Anordnung war Anfang des Monats von der
EU-Kommission in Brüssel beantragt worden. Die für die Verfolgung von
Verstößen gegen EU-Recht zuständige Behörde ist der Ansicht, dass m
it
den Zwangspensionierungen gegen den Grundsatz der richterlichen
Unabhängigkeit verstoßen wird. Es werde insbesondere auch das Prinzip
der Unabsetzbarkeit von Richtern untergraben, heißt es in Brüssel.

Für die polnische Regierung gilt die Anordnung des EuGH als schwere
Schlappe. Sie argumentiert seit Monaten, dass ihre umstrittenen
Justizreformen nicht gegen EU-Recht verstoßen.

Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki kündigte am Freitag
eine genaue Analyse der Gerichtsentscheidung an. Die Mehrheit der
Polen stehe hinter dem Umbau der Justiz, verteidigte er die Gesetze
der nationalkonservativen Regierungspartei PiS. «Die Urteile
polnischer Gerichte werden oft für ungerecht gehalten», sagte er.

Auch Polens Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro
wollte sich erst nach einer Analyse des EuGH-Urteils näher äußern.
«Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nur so viel sagen, dass wir in der
Europäischen Union sind und Polen vorhat, die Vorschriften der EU
einzuhalten.»

Das Warschauer Außenministerium kritisierte die EuGH-Entscheidung.
Sie habe «provisorischen Charakter und wurde herausgegeben, ohne sich
mit dem Standpunkt Polens auseinanderzusetzen», schrieb das
Ministerium bei Twitter. Die Entscheidung bezüglich der einstweiligen
Anordnung sei noch nicht endgültig, hieß es.

Im konkreten Fall geht es um ein Gesetz zum Obersten Gericht. Mit ihm
wird das Pensionsalter für Richter von 70 auf 65 Jahre herabgesetzt.
Dies nutzte die politische Führung seit Anfang Juli dazu, mehr als 20
Richter in den Ruhestand zu schicken. Darunter ist auch die Erste
Präsidentin des Gerichts, Malgorzata Gersdorf.

Gersdorf sagte zu der Gerichtsentscheidung: «Ich freue mich, dass
jemand unsere Rechte berücksichtigt hat.» Es sei allerdings
unbefriedigend, dass Polens Regierung dies nicht getan habe und es
erst zu einer EuGH-Klage habe kommen müssen.

Für den Fall, dass Polen die Anordnung nicht befolgt, dürfte die
EU-Kommission gegen das Land im nächsten Schritt Zwangsgelder
beantragen. Sie könnten sich auf einen sechsstelligen Betrag pro Tag
belaufen.

Unabhängig von dem EuGH-Verfahren läuft gegen Polen derzeit auch noch
ein politisches EU-Strafverfahren. Dieses kam zuletzt aber nicht
voran, weil es vor allem von ost- und mitteleuropäischen Staaten
kritisch gesehen wird. Das politische Strafverfahren könnte nach
Artikel 7 des EU-Vertrags im letzten Schritt sogar mit einem Entzug
der EU-Stimmrechte enden.