Riesen-Demonstration in London für neues Brexit-Referendum Von Silvia Kusidlo, dpa

21.10.2018 11:09

Schon in weniger als einem halben Jahr will Großbritannien die EU
verlassen. Die Kampagne «People's Vote» organisiert einen riesigen
Protestzug für ein zweites Referendum in London - aber nützt das was?

London (dpa) - Es war einer der größten Protestzüge in der britischen

Hauptstadt seit Jahren: Etwa 700 000 Menschen haben nach
Veranstalterangaben am Samstag in London gegen den Brexit
demonstriert. Bürgermeister Sadiq Khan von der oppositionellen
Labour-Partei sprach von einem «historischen Moment» der Demokratie.

Aufgerufen zu dem Marsch hatte die Kampagne «People's Vote», die ein
zweites Referendum zum EU-Austritt durchsetzen will. Nach ihrem
Willen sollen die Briten das Recht bekommen, über ein finales
Abkommen abzustimmen. Die Chancen dafür stehen aber äußerst schlecht.


Die politisch angeschlagene Premierministerin Theresa May hatte schon
zuvor ein zweites Referendum strikt abgelehnt. Britische Medien
äußerten sich ebenfalls skeptisch: Es spiele überhaupt keine Rolle,
ob sich 700 oder 700 000 Menschen an einer solchen Demonstration
beteiligten, kommentierte etwa der Nachrichtensender Sky News.

Neue Nackenschläge für May gab es am Sonntag auch aus ihrer eigenen
Partei. Der zurückgetretene Brexit-Minister David Davis warf der
Regierungschefin in der «Mail on Sunday» vor, mit ihren Plänen nicht

nur Anhänger, sondern auch Gegner des EU-Austritts verärgert zu
haben. Davis wird als ein möglicher Nachfolger Mays gehandelt.

Die friedliche Anti-Brexit-Demonstration bei schönstem Wetter führte
mitten durch London bis zum Parlament. Die Veranstalter hatten
zunächst nur etwas über 100 000 Teilnehmer erwartet. Die Polizei gab
keine offizielle Schätzung ab. Es könnte sich Medienberichten zufolge
um die größte Demonstration seit 15 Jahren in der Hauptstadt handeln.

Selbst von den über 1000 Kilometer entfernten Orkney-Inseln vor der
Nordküste Schottlands kamen Menschen nach London, um ihren Ärger Luft
zu machen. Familien mit Kindern beteiligten sich ebenso wie
EU-freundliche Abgeordnete der regierenden Konservativen.

«Das ist doch alles Banane! Total verrückt!», schimpfte Jacki Hughes

aus Lancaster im Nordwesten Englands über den geplanten Brexit im
Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Und ihr Freund Anthony
Brown ergänzte: «Wir wollen in der EU bleiben. Ich möchte kein Visum

beantragen müssen, wenn ich zum Beispiel Deutschland besuche.»

Ein anderer Brite hielt ein Schild hoch mit der Aufschrift: «Papa war
hier». Warum? «Ich kämpfe hier auch für mein Kind und meine Frau, d
ie
Italienerin ist.» Der Brexit sei zudem wirtschaftlicher Unfug. Auch
Prominente aus dem Kulturbereich wie der Schauspieler Andy Serkis
(«Der Herr der Ringe») tauchten in der Menge auf.

Beim Referendum 2016 sei der EU-Austritt als «einfachster Deal in der
Geschichte» verkauft worden, so «People's Vote», ein Zusammenschluss

mehrerer Gruppierungen. Inzwischen wisse man aber, welche Kosten der
Brexit verursache und welchen Schaden er den Arbeitnehmerrechten
zufüge. Kritik wurde ebenfalls an der Abwanderung von ausländischen
Ärzten und Pflegepersonal sowie am schwächelnden Pfund geübt.

An dem Protestzug nahmen auch zahlreiche Studenten teil, von denen
sich viele wegen ihres Alters noch nicht an dem Brexit-Referendum
2016 beteiligen durften. Damals hatte nur eine knappe Mehrheit (52
Prozent) der Briten für den Austritt gestimmt. Großbritannien will
Ende März 2019 die Europäische Union verlassen.

Die Verhandlungen mit Brüssel stecken in einer Sackgasse. May steht
deshalb unter einem enormen Druck von mehreren Seiten. Damit steigt
die Wahrscheinlichkeit, dass sich London ohne Abkommen von der EU
trennt. Dies würde Auswirkungen auf alle Lebensbereiche haben.

Vor den dramatischen Folgen eines solchen ungeregelten Brexits warnte
auch die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley.
«Für unendlich viele Fragen gäbe es keine Regelung - vom Status der
jeweiligen Staatsbürger bis hin zum Flugverkehr zwischen
Großbritannien und dem Kontinent», sagte die Bundesjustizministerin
der Funke Mediengruppe und der französischen Zeitung «Ouest-France».


Die Brexit-Verhandlungen stocken vor allem wegen der Irland-Frage.
London und Brüssel wollen zwar Kontrollen und Schlagbäume an der
derzeit nahezu unsichtbaren Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und
dem britischen Nordirland vermeiden, damit in der fragilen
Ex-Bürgerkriegsregion nicht wieder Unruhen aufflammen. Sie konnten
sich aber bislang nicht auf eine praktikable Lösung einigen.

Um Zeit für eine Regelung zu gewinnen, brachte die EU kürzlich die
Verlängerung der geplanten Übergangsphase nach dem EU-Austritt ins
Gespräch. Statt bis Ende 2020 könnte sie ein Jahr länger dauern.