Spitzenkandidat Timmermans lässt Europas Sozialdemokraten hoffen Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

08.12.2018 17:18

Der Niederländer Frans Timmermans soll die entmutigte
Sozialdemokratie bei der Europawahl 2019 beflügeln. In Lissabon übten
seine Parteifreunde schonmal das Jubeln.

Lissabon (dpa) - Frans Timmermans erzählt gerne von seinen Kindern,
zum Beispiel diese Geschichte: Als er mit seiner jüngsten Tochter zum
ersten Mal von seiner niederländischen Heimatstadt Heerlen ins nahe
Aachen radelte, kamen sie an alten Weltkriegs-Panzersperren vorbei.
«Hier ist die Grenze», erklärte Timmermans der Achtjährigen. Die ab
er
fragte: «Papa, was ist eine Grenze?»

Die Anekdote erwähnte Timmermans schon bei seiner Bewerbung als
Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten im Oktober. Beim
Parteitag in Lissabon am Samstag, wo ihn seine Parteifreunde dann
wirklich zum Spitzenmann für die Europawahl 2019 kürten, schloss er
seine Rede damit. Ein friedliches Europa ohne Grenzen - «ist das
nicht ein wunderbares Geschenk?», fragte Timmermans.

Der 57-Jährige will nicht nur seine fast überall in Europa
geschwächten Sozialdemokraten zu neuer Stärke führen und
nationalistischen Populisten die Stirn bieten. Er gibt sich auch fest
entschlossen, nach der Europawahl im Mai neuer Präsident der
EU-Kommission zu werden. Im Wahlkampf wird er der große Rivale von
CSU-Vizechef Manfred Weber, der für die Europäische Volkspartei ins
Rennen zieht und ebenfalls den scheidenden Kommissionschef
Jean-Claude Juncker beerben will.

Die beiden Kandidaten sind sehr unterschiedlich, zumindest auf den
ersten Blick. Anders als der 45-jährige Weber hat Timmermans
Erfahrung in vielen Spitzenämtern. Er war niederländischer Diplomat,
Abgeordneter, Europa- und Außenminister und ist seit 2014 unter
Juncker erster Vizepräsident der EU-Kommission, jener mächtigen
Behörde, die für die Europäische Union Gesetze vorschlägt und die
Einhaltung überwacht.

Dort ist er unter anderem für Nachhaltigkeit zuständig und
profilierte sich mit einem Plan gegen Plastikstrohhalme und
Wegwerfgeschirr. Vor allem aber kümmerte er sich um das heikle Thema
des Rechtsstaatsverfahrens gegen Polen und verwies immer wieder auf
die Gefahren, die er als Folge der Justizreformen der
rechtsnationalen Regierung in Warschau sieht. Die warf dem
Sozialdemokraten daraufhin Parteilichkeit vor, was Timmermans aber
nicht weiter schreckte. In Lissabon bekräftigte er, die Regierenden
in Warschau nicht vom Haken zu lassen: «Ich werde das polnische Volk
nie im Stich lassen in ihrem Kampf für Demokratie.»

Timmermans wuchs nicht nur in Heerlen auf, sondern zog als Sohn eines
niederländischen Diplomaten auch durch halb Europa. Er lebte in
Paris, Brüssel und Rom. Später studierte er französische Literatur-
und Sprachwissenschaft in den Niederlanden und im französischen Nancy
Europarecht, Politik und französische Literaturwissenschaften. Als
Diplomat war er unter anderem in Moskau. Er spricht sieben Sprachen
fließend, darunter Deutsch und Russisch. Anders als Weber, der neben
seiner Muttersprache nur Englisch spricht.

Auch politisch leben beide in verschiedenen Welten. Weber pocht sehr
auf Sicherheit, Schutz der Außengrenzen und dauerhafte Lösungen gegen
illegale Migration. Timmermans hingegen erklärt das Soziale zur
Schicksalsfrage für Europa. «Bei der Sozialfrage müssen wir wirklich

nachlegen, da haben wir wirklich eine Riesenaufgabe», sagte er in
Lissabon. Zu viele Europäer fühlten sich abgehängt. Wenn man nicht
gemeinsam eine Lösung finde, «dann wird Europa scheitern, dann werden
sich die Leute von Europa abwenden, das darf uns nicht passieren».

Das verbindet beide Kandidaten dann doch: Beide versuchen, sich im
echten Leben zu erden. Weber betont seine Wurzeln im dörflichen
Niederbayern, weit weg von Brüssel und nahe bei den Menschen. Genau
wie Timmermans, der seine Bewerbung im Oktober zum allgemeinen
Erstaunen ohne Direktübertragung und Brimborium vor ein paar Dutzend
Leuten in Heerlen bekanntgab. «Hier gehöre ich hin», sagte er. «Nic
ht
ins (Kommissionsgebäude) Berlaymont.» Als Brüsseler Eurokrat will in

Zeiten populistischer Breitseiten gegen die EU niemand gelten.

Timmermans, der in zweiter Ehe verheiratet ist und insgesamt vier
Kinder hat, wirkt damit zumindest für seine Anhänger glaubhaft. Die
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, Frankreich und
anderen EU-Ländern aufgeriebenen Sozialdemokraten schöpfen gerade
wieder Mut. In Lissabon riss er seine Zuhörer von den Sitzen, obwohl
Timmermans selbst eher zurückhaltend und bescheiden wirkte.

«Das ist ein charakterstarker Mensch, ein toller Typ, der geradeaus
redet, der nicht lügt, der zur Sozialdemokratie passt und sie
grandios verkörpert mit ihren Werten», sagt auch der deutsche
Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament, Udo Bullmann.

Die Sozialdemokraten kamen europaweit 2014 auf rund 25,4 Prozent. In
den Umfragen vor der Wahl im Mai liegen sie nur noch bei 20. Die EVP
dürfte dagegen wieder stärkste Partei werden und Anspruch auf das Amt
des Kommissionspräsidenten erheben. Doch Bullmann träumt von einer
Allianz progressiver Parteien mit Grünen, Liberalen und Linken, die
Timmermans zum Sieg tragen könnte. Er sei optimistisch, behauptet der
deutsche Sozialdemokrat.