EuGH: Großbritannien könnte Brexit noch stoppen - London winkt ab

10.12.2018 12:45

Der Exit vom Brexit ist noch ohne Weiteres möglich, entscheiden die
obersten EU-Richter - ein spektakuläres Signal an die Gegner des
EU-Austritts. Die britische Regierung aber gibt sich unbeeindruckt.

Luxemburg/London (dpa) - Großbritannien könnte den für 2019
angekündigten Brexit noch ohne weiteres stoppen und Mitglied der
Europäischen Union bleiben. Dies entschied der Europäische
Gerichtshof am Montag in Luxemburg. Eine Zustimmung der übrigen
EU-Staaten sei nicht nötig. Die Schwelle für einen Rückzieher von dem

in Großbritannien sehr umstrittenen EU-Austritt ist somit niedriger
als gedacht. Die britische Regierung erklärte aber umgehend, das
spiele keine Rolle.

«Ich glaube, das ist irrelevant», sagte Außenminister Jeremy Hunt bei

einem EU-Treffen in Brüssel. Er verwies auf die 52 Prozent der
Briten, die 2016 für den EU-Austritt gestimmt hätten und eine
Verzögerung nicht verstehen würden. «Ich glaube, die Leute wären
geschockt und sehr böse und das ist bestimmt nicht die Absicht der
Regierung», sagte Hunt. Der britische Umweltminister Michael Gove
äußerte sich in der BBC ähnlich.

Das oberste schottische Zivilgericht hatte den EuGH um eine Bewertung
gebeten (Rechtssache C-621/18). Das Urteil fiel nur einen Tag vor für
Dienstagabend geplanten der Abstimmung des britischen Parlaments über
das von Regierungschefin Theresa May mit der EU ausgehandelte
Austrittsabkommen. Dafür zeichnet sich keine Mehrheit ab. Die Suche
nach Alternativen ist in vollem Gange. Bundesaußenminister Heiko Maas
äußerte die Hoffnung, «dass unter Anwendung größtmöglicher Vern
unft
in London in dieser Woche gute Entscheidungen getroffen werden».

Die britische Regierung hatte am 29. März 2017 die übrigen EU-Staaten
offiziell darüber informiert, dass das Land die EU verlassen will.
Damit begann ein zweijähriges Austrittsverfahren nach Artikel 50 der
EU-Verträge, das planmäßig mit dem Brexit genau zwei Jahre später a
m
29. März 2019 endet. Die EU-Kommission und der Rat der
Mitgliedsländer hatten vor dem EuGH argumentiert, das Verfahren lasse
sich nur mit einem einstimmigen Beschluss des Rats stoppen.

Der EuGH sieht das ganz anders. Ein einseitiger Rückzieher der
Austrittsankündigung sei «in Übereinstimmung mit den
verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten» in Großbritannien möglich.
Das gelte, bis ein Austrittsabkommen in Kraft oder die Austrittsfrist
einschließlich möglicher Verlängerungen abgelaufen sei.

Die «eindeutige und bedingungslose Entscheidung» zum Verbleib in der
EU müsse dem Rat schriftlich mitgeteilt werden. Dann bliebe
Großbritannien zu unveränderten Bedingungen Mitglied der EU,
entschieden die Luxemburger Richter.

Das Urteil dürfte den Brexit-Gegnern in Großbritannien Auftrieb
geben. Aus Schottland, wo eine Mehrheit 2016 gegen den Austritt
gestimmt hatte, kamen sofort positive Reaktionen. Regierungschefin
Nicola Sturgeon sprach von einem «wichtigen Urteil». Es ermögliche -

neben Deal und einem ungeregelten Austritt - eine weitere Option.

Die EU-Seite reagierte verhalten, zumal nun Großbritannien das Heft
des Handelns in der Hand hat. EU-Ratschef Donald Tusk nahm das Urteil
zur Kenntnis, wollte aber offiziell nicht Stellung beziehen, wie es
aus EU-Kreisen hieß. Tusk hat Großbritannien immer wieder angeboten,
in der EU zu bleiben.

Der irische Außenminister Simon Coveney sagte: «Die Zukunft
Großbritanniens ist Angelegenheit Großbritanniens.» Doch beobachte
Irland die Entwicklung in London sehr genau, da der Brexit große
Folgen für sein Land habe. Coveney bekräftigte, dass die EU
Nachverhandlungen ablehne: «Der Deal ist der Deal.»

May steht unter Druck, ihr Brexit-Paket noch einmal aufzuschnüren und
die EU zu Änderungen an den Sonderregeln für Nordirland zu bewegen.
Diese sollen garantieren, dass die Grenze zwischen Nordirland und dem
EU-Staat Irland offenbleiben können. May argumentiert ebenfalls,
Änderungen seien mit der EU nicht mehr möglich.

Das Brexit-Paket besteht aus einem knapp 600 Seiten starken
Austrittsvertrag, der die Bedingungen der Trennung regelt, so etwa
die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und finanzielle Pflichten
Londons gegenüber der EU. Ergänzt wird der Vertrag durch eine
rechtlich nicht bindende politische Erklärung zu den künftigen
Beziehungen. Widerstand gibt es von Befürwortern wie Gegnern des
Austritts.

Scheitert Mays Plan im Parlament, muss May entweder noch einmal
abstimmen lassen - oder es braucht einen Plan B. Aus der britischen
Regierung und der Opposition mehren sich Signale, dass dann eine
engere Anbindung an die EU erwogen werden könnte, zum Beispiel der
Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion. Nicht mehr undenkbar ist ein
zweites Referendum - oder eben sogar ein Rückzieher vom Brexit.