Abstimmung zu Brexit-Abkommen im britischen Unterhaus wird verschoben

10.12.2018 19:56

Im letzten Moment macht die britische Premierministerin Theresa May
einen Rückzieher bei der Abstimmung über den Brexit-Deal. Immer
deutlicher zeichnete sich zuvor eine krachende Niederlage ab. Nun
will sie in Brüssel nachverhandeln.

London/Luxemburg (dpa) - Die Abstimmung über das Brexit-Abkommen im
britischen Parlament wird verschoben. Das sagte Premierministerin
Theresa May am Montag vor den Abgeordneten in London. Der Termin war
ursprünglich für Dienstagabend angesetzt. Wann die Abstimmung
stattdessen abgehalten werden soll, war zunächst unklar.

May will nun mit ihren Amtskollegen aus den EU-Staaten und den
Spitzen der Europäischen Union nachverhandeln. Doch die Rufe nach
einem Rücktritt der Regierungschefin und nach einem zweiten
Brexit-Referendum werden immer lauter.

EU-Ratspräsident Donald Tusk berief für Donnerstag einen Gipfel der
27 bleibenden EU-Staaten ein. Man werde den Deal nicht neu
verhandeln, schrieb er im Kurznachrichtendienst Twitter. «Aber wir
sind bereit zu diskutieren, wie die Ratifikation in Großbritannien
bewerkstelligt werden kann.» Auch eine Kommissionssprecherin in
Brüssel bekräftigte: «Dieser Deal ist der beste Deal und der einzige

mögliche Deal.»

May nannte als Grund für die Verschiebung der Abstimmung den
Widerstand im Parlament gegen den sogenannten Backstop. «Als Resultat
würde der Deal mit großem Abstand abgelehnt werden, wenn wir morgen
fortfahren und die Abstimmung abhalten würden.» Mit dem Backstop im
Abkommen soll verhindert werden, dass zwischen dem britischen
Nordirland und dem EU-Mitglied Irland nach dem Brexit wieder
Grenzkontrollen eingeführt werden. In diesem Fall würde ein
Wiederaufflammen des Konflikts in der Ex-Bürgerkriegsregion
befürchtet.

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bezeichnete die
Entscheidung, die Abstimmung zu verschieben, als «erbärmliche
Feigheit». Die konservative Regierungspartei stelle damit ihre
eigenen Interessen über die des Landes, so Sturgeon. Der Chef der
oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, forderte May auf,
entweder beim Abkommen nachzuverhandeln oder eine Neuwahl auszurufen.
«Wir haben keine funktionierende Regierung», so Corbyn.

Die Verschiebung der Unterhausabstimmung erzeugte Ökonomen zufolge
Unsicherheit und verschreckte die Anleger. Der Euro geriet Montag
gemeinsam mit dem britischen Pfund unter Druck. Am frühen Abend fiel
die Gemeinschaftswährung bis auf 1,1357 US-Dollar. Die britische
Währung fiel zeitweise bis auf 1,1004 Euro. Dies ist der niedrigste
Stand seit August.

«Was für ein Schlamassel!», teilte der Präsident des Bundesverbande
s
Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), André Schwarz, mit.

Nur etwa drei Monate vor dem Stichtag «wissen die Unternehmen noch
immer nicht, was auf sie zukommt und wie es weitergehen soll».

Großbritannien will Ende März 2019 aus der Staatengemeinschaft
ausscheiden. Sollte bis dahin kein Abkommen ratifiziert sein, droht
ein ungeregelter Austritt aus der EU mit chaotischen Folgen für die
Wirtschaft und andere Lebensbereiche.

Etwa 100 der 315 Abgeordneten aus Mays Konservativer Partei hatten
angekündigt, das vorliegende Brexit-Abkommen nicht zu unterstützen.
Viele von ihnen fürchten eine zu starke Bindung an die EU. Auch die
nordirische DUP, auf deren zehn Stimmen Mays Regierung im Parlament
angewiesen ist, kündigte Widerstand an. Sie lehnt Sonderregelungen
für Nordirland ab. Von der Opposition darf sich May ebenfalls keine
Unterstützung erhoffen. May braucht mindestens 320 Ja-Stimmen, um den
Deal sicher durch das Parlament zu bringen.

Mays Posten als Premierministerin wackelt mehr denn je. Britischen
Medien zufolge stehen mehrere Politiker als mögliche Nachfolger in
der Startposition, darunter Innenminister Sajid Javid und
Ex-Außenminister Boris Johnson, einer der größten Widersacher Mays.

«Wir können nicht so weitermachen wie jetzt», sagte einer der
schärfsten Kritiker, der Tory-Politiker Jacob Rees-Mogg. «Die
Premierministerin muss entweder regieren oder aufgeben.»

Neben Nachverhandlungen mit Brüssel wird in Großbritannien auch über

ein zweites Brexit-Referendum spekuliert. Beim ersten Referendum 2016
hatte sich nur eine knappe Mehrheit der Briten für die Loslösung von
der Europäischen Union ausgesprochen.

Denkbar ist auch ein Rückzieher vom Brexit. Die Schwelle dafür ist
niedriger als gedacht, wie aus einer Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs in Luxemburg hervorgeht. Großbritannien könnte demnach
den Brexit einseitig und ohne Zustimmung anderer EU-Länder stoppen.
Die britische Regierung erklärte umgehend, das spiele keine Rolle.

Die britische Regierung hatte am 29. März 2017 die übrigen EU-Staaten
offiziell darüber informiert, dass das Land die EU verlassen will.
Damit begann ein zweijähriges Austrittsverfahren nach Artikel 50 der
EU-Verträge, das planmäßig mit dem Brexit genau zwei Jahre später a
m
29. März 2019 endet. Die EU-Kommission und der Rat der
Mitgliedsländer hatten vor dem EuGH argumentiert, das Verfahren lasse
sich nur mit einem einstimmigen Beschluss des Rats stoppen.

US-Außenminister Mike Pompeo sicherte dem alten US-Verbündeten
Großbritannien auch für den Fall eines No Deals den Fortbestand der
besonderen Beziehung beider Länder zu. «Das ist sicherlich für sie
wichtig, aber es ist in hohem Maße auch für uns wichtig», sagte
Pompeo dem konservativen Radiosender Salem Radio. London baut für die
Zeit nach dem EU-Austritt auf ein Handelsabkommen mit den USA.