Auf dünnem Eis - May verschiebt Abstimmung über Brexit-Abkommen Von Christoph Meyer und Silvia Kusidlo, dpa

10.12.2018 19:02

Die britische Premierministerin Theresa May muss einen Rückzieher
machen. Zu groß ist der Widerstand gegen ihr Brexit-Abkommen im
Parlament. Die Rufe nach ihrem Rücktritt oder einem zweiten
Referendum werden immer lauter.

London (dpa) - «Herbei, o ihr Gläubigen» - vor wenigen Tagen weihte
die britische Premierministerin Theresa May den Christbaum vor dem
Regierungssitz Downing Street 10 mit Unterstützung eines Kinderchors
ein - und sang kräftig mit.

Doch schon da glaubte niemand mehr daran, dass sie das mit Brüssel
ausgehandelte Brexit-Abkommen durchs Parlament bringen würde. Am
Montag sagte sie die für Dienstag angesetzte Abstimmung schließlich
ab. Nun scheint selbst unklar, ob sie an Weihnachten noch
Premierministerin sein wird. Sie bewegt sich auf dünnem Eis. Ein
Putsch aus den eigenen Reihen, ein Misstrauensvotum im Parlament -
alles scheint derzeit möglich, so groß ist die Wut über die
Regierungschefin.

Immer deutlicher zeigt sich, dass May sich voreilig auf das Abkommen
festgelegt hat. Von einer «neuen Dynamik» war die Rede, sollte erst
einmal ein Deal schwarz auf weiß vorliegen. Doch das bewahrheitete
sich nicht. Der Widerstand im Parlament wurde immer stärker, je näher
die Abstimmung rückte. «Sie besteht darauf, gegen eine Mauer zu
rennen», hatte der Fraktionschef der nordirischen DUP, Nigel Dodds,
bereits vor Tagen mit Blick auf die Premierministerin prophezeit.

Es ist nicht das erste Mal, dass May mit dem Kopf durch die Wand
will. Wäre es nach ihr gegangen, hätte das Parlament nicht über den
Brexit-Deal abstimmen dürfen. Die Abgeordneten mussten der Regierung
das in zähen Debatten abtrotzen.

Auch dieses Mal will die Regierungschefin über den Kopf der
Parlamentarier hinweg entscheiden. Trotz deutlicher Ermahnungen von
Parlamentssprecher John Bercow, die Regierung verhalte sich «zutiefst
unhöflich», verzichtete sie darauf, die Änderung im Zeitplan durch
eine Abstimmung absegnen zu lassen.

Als schwierigste Hürde in dem Abkommen erweist sich der Backstop, die
Garantie, dass mit dem Brexit keine neuen Grenzkontrollen zwischen
dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland eingeführt
werden sollen. Die Regelung sieht vor, dass Großbritannien als Ganzes
so lange in der Europäischen Zollunion bleiben soll, bis das Problem
durch ein neues Abkommen gelöst ist. Nordirland muss zudem Regeln des
Binnenmarkts einhalten.

Dagegen gebe es tief gehende und weit verbreitete Bedenken, so May.
Sie glaube weiterhin an das Abkommen. «Und ich glaube, dass in diesem
Haus eine Mehrheit dafür gewonnen werden kann, wenn ich die
zusätzliche Rückversicherung zur Backstop-Frage bekommen kann», so
die Regierungschefin. Sie habe bei ihren Telefonaten mit Amtskollegen
aus der EU Signale erhalten, die auf eine Gesprächsbereitschaft
hindeuteten.

Kritiker im Parlament fürchten, dass Großbritannien mit dem Backstop
dauerhaft im Orbit der EU gehalten werden soll. Die nordirische
Protestantenpartei DUP, von der Mays Minderheitsregierung abhängt,
lehnt jegliche Sonderbehandlung ihrer Provinz kategorisch ab. «Der
Backstop muss weg», twittere DUP-Chefin Arlene Foster.

Doch aus Brüssel kam erst einmal die unmissverständliche Botschaft,
dass es keine Änderungen an dem Brexit-Abkommen geben wird. Dass May
mit kosmetischen Veränderungen an dem Abkommen die Stimmung im
Unterhaus entscheidend beeinflussen könnte, scheint aussichtslos.
Mehr als hundert Abgeordnete aus Mays eigener Fraktion hatten sich im
Vorfeld gegen das Abkommen ausgesprochen. Auch aus der Opposition
konnte sich May keine Unterstützung für das Abkommen erhoffen. «Wann

auch immer sie entscheidet, es in dieses Haus zurückzubringen,
Heiligabend, am ersten Weihnachtstag, am zweiten Weihnachtstag: Es
wird abgelehnt werden», rief ihr eine Labour-Abgeordnete entgegen.

Noch ist kein neuer Termin für die Abstimmung angesetzt. Möglich,
dass May auf Zeit spielt, in der Hoffnung, die Sorge vor einem
ungeregelten Brexit werde die Abgeordneten schon mürbe machen.

Am 29. März 2019 wird Großbritannien die EU verlassen. Sollte bis
dahin kein Abkommen ratifiziert sein, würde das Land ungeregelt
ausscheiden - mit chaotischen Folgen für die Wirtschaft und viele
andere Lebensbereiche.

Das knapp 600 Seiten starke Abkommen sieht vor, dass Großbritannien
bis mindestens Ende 2020 de facto in der EU bleibt. Während dieser
Übergangsphase soll die neue Beziehung zwischen der EU und
Großbritannien ausgehandelt werden. Ein grober Rahmen dafür wurde
bereits in einer nicht bindenden politischen Erklärung vorgelegt.