Studie: Antisemitismus nimmt aus Sicht der jüdischen Bevölkerung zu

10.12.2018 20:04

Viele Juden in Europa haben Angst vor tätlichen Angriffen.
Schikanierungen melden sie der Polizei oft nicht. Ist Antisemitismus
der Normalfall?

Wien (dpa) - Ein Großteil der jüdischen Bevölkerung in der EU hat
laut einer Studie das Gefühl, dass der Antisemitismus in den
vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen hat. 63 Prozent der
Befragten aus zwölf Ländern gaben in der Erhebung der EU-Agentur für

Grundrechte (FRA) an, dass sich der Antisemitismus deutlich verstärkt
habe. 23 Prozent sprachen von einer leichten Verstärkung. 45 Prozent
bezeichneten Antisemitismus als ein «sehr großes Problem». Die
Befragten aus Deutschland antworteten bei diesen Fragen ähnlich wie
der Durchschnitt aller Befragten.

Der erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, zeigte
sich angesichts der Zahlen tief besorgt. Die jüdische Gemeinschaft
müsse sich in Europa sicher und zuhause fühlen. «Es gibt kein Europa,

falls Juden sich in Europa nicht sicher fühlen», sagte Timmermans.
Dies sei eine Verantwortung aller staatlichen Stellen - egal ob auf
europäischer, nationaler, regionaler oder lokaler Ebene.

Er wünsche sich nicht nur als Mitglied der EU-Kommission, sondern
auch als Vater, dass jeder junge Europäer die Geschichte Europas
kenne, besonders die des Holocausts. In der vergangenen Woche hatten
die Innenminister der EU-Staaten eine Erklärung zum Kampf gegen
Antisemitismus verabschiedet und zum besseren Schutz jüdischer
Gemeinden und Einrichtungen aufgefordert.

Bundesaußenminister Heiko Maas schrieb auf Twitter, es sei beschämend
für Deutschland, wenn die Juden hierzulande über die letzten fünf
Jahre sagten, dass 52 Prozent von ihnen belästigt worden seien, sich
75 Prozent nicht trauten, die Kippa zu tragen und 46 Prozent
bestimmte Orte mieden. «Wir müssen aufstehen gegen #Antisemitismus!»,

forderte Maas.

Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums sagte zu der Studie: «Die
Nachricht ist erschütternd.» Das Innenministerium habe mit der
Einsetzung eines Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland
unter Beweis gestellt, dass es eine solche Entwicklung nicht tatenlos
hinnehme.

Die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer ergänzte: «Es
ist der Bundesregierung natürlich ein besonderes Anliegen, dass sich
jüdisches Leben in Deutschland frei und sicher entfalten kann und
weiter gestärkt wird.» Die Erinnerung an den Holocaust mahne zur
Verteidigung der Werte der Demokratie. «Dazu gehört, dass Jüdinnen
und Juden in unserem Land sicher leben können.»

Auffällig ist - wie schon andere Studien gezeigt haben - dass
Antisemitismus keine Einstellung allein des rechten Rands ist. Zu den
häufigen Täter-Gruppen zählten Menschen mit extremen muslimischen
Einstellungen (30 Prozent), gefolgt von Menschen aus der eher linken
Szene (21 Prozent), Arbeits- oder Schulkollegen (16 Prozent),
Menschen aus dem Bekanntenkreis (15 Prozent) und Personen mit eher
rechtsextremen Ansichten (13 Prozent).

40 Prozent der mehr als 16 000 Befragten machen sich laut Studie
Sorgen, dass sie in den nächsten Monaten Opfer eines gewalttätigen
Angriffs aufgrund ihrer Religion werden könnten. Tatsächlich passiert
ist das in den vergangenen zwölf Monaten laut der Studie nur zwei
Prozent der Befragten. Fast jeder Dritte wurde aber Opfer einer
Belästigung oder Beleidigung. Aus der Erhebung geht hervor, dass
Schauplätze für Antisemitismus vor allem das Internet und die
Sozialen Medien sind.

Zu den im Internet verbreiteten antisemitischen Vorurteilen zählen
laut der FRA-Studie Aussagen wie «Israelis benehmen sich wie Nazis
gegenüber den Palästinensern», «Juden haben zu viel Macht» und
«Juden
nutzen die Opferrolle im Holocaust für ihre eigenen Zwecke aus». «Die

Ergebnisse zeigen, dass Antisemitismus in der Öffentlichkeit präsent
ist, dabei werden negative Klischees wiederholt und eingeprägt»,
heißt es in der Studie.

Viele Juden melden Schikanierungen demnach gar nicht der Polizei. 80
Prozent seien weder zur Polizei noch zu sonstigen Organisationen
gegangen, schrieb die Agentur. Grund dafür sei oft der fehlende
Glaube, dass sich durch eine Anzeige etwas ändern würde. Viele fanden
die Bedrohung oder Belästigung demnach auch nicht ernsthaft genug, um
sie zu melden. Diese Erkenntnisse ähneln stark denen aus einer
kürzlich veröffentlichten Studie der Agentur über Schwarze in Europa.

Auch in dieser Gruppe melden demnach die wenigsten Opfer von
Diskriminierungen die Vorfälle - unter anderem, weil sie der Polizei
nicht vertrauen oder Angst vor ihr haben.

Insgesamt legt die Studie über die jüdische Bevölkerung nahe, dass
für viele der Antisemitismus schon so verbreitet ist, dass einzelne
Vorkommnisse unbedeutend seien. «Aber jeder antisemitische Vorfall
ist in seinem Kern eine Attacke auf die Würde eines Menschen und kann
nicht als lästig abgetan werden», mahnen die Autoren.

Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef
Schuster, warnte: «Antisemitismus als Normalfall - das darf Europa
als Kontinent der Aufklärung nicht hinnehmen.» Die EU-Staaten müssten

sich viel stärker dagegen engagieren.

Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongress', nannte die
Ergebnisse der Umfrage zwar schockierend, betonte aber auch, sie
seien nicht überraschend. «Was die ungezügelte Ausbreitung des
Antisemitismus in Europa aufhalten kann, ist nicht nur die
Verbesserung der körperlichen Sicherheit, sondern auch Bildung.» Nun
liege es mehr denn je an den politischen Führern, den Ton dessen zu
setzen, was in Europa ein akzeptabler Diskurs sei.