Furcht vor Brexit-Chaos: May auf Rettungsmission in Europa

11.12.2018 16:59

Nach der Verschiebung der Brexit-Entscheidung im britischen Parlament
ist die Lage verworren. Kommt nun der gefürchtete chaotische Brexit -
oder findet sich doch noch ein Ausweg?

Brüssel/London (dpa) - In schier aussichtsloser politischer Lage hat
die britische Premierministerin Theresa May am Dienstag versucht, der
Europäischen Union neue Zugeständnisse beim Brexit abzuringen. Sie
reiste dafür im Zickzack durch halb Europa. Bundeskanzlerin Angela
Merkel erteilte aber nach ihrem Treffen mit May Nachverhandlungen zum
Austrittsvertrag eine klare Absage, wie die Deutsche Presse-Agentur
erfuhr. Auch die EU lehnt das ab. Trotzdem hält Merkel eine Lösung
nicht für ausgeschlossen.

May hatte wegen einer drohenden Niederlage die für Dienstagabend
geplante Abstimmung im britischen Parlament über ihr
Brexit-Vertragspaket mit der EU verschoben. Zum neuen Termin erklärte
die britische Regierung nur, das Votum solle vor dem 21. Januar
stattfinden. Zunächst will May weitere «Zusicherungen» von der EU
erreichen, um so die Bedenken im Unterhaus auszuräumen.

Hauptstreitpunkt in Großbritannien ist die von der EU verlangte
Garantie für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem
britischen Nordirland, der sogenannte Backstop. Brexit-Befürworter
befürchten, dass die im Austrittsvertrag vorgesehene Lösung
Großbritannien auf Dauer eng an die EU bindet. Sie wollen eine
Befristung. Das hat die EU aber stets abgelehnt.

May reiste am Dienstag zunächst zum niederländischen
Ministerpräsidenten Mark Rutte und traf dann Bundeskanzlerin Merkel
und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer in Berlin vor der
Weiterreise zu EU-Ratschef Donald Tusk und Kommissionschef
Jean-Claude Juncker nach Brüssel.

Merkel bestätigte nach dpa-Informationen in der Sitzung der
Unionsfraktion, dass der Backstop der zentrale Knackpunkt sei. Es
gehe nun darum, ob Großbritannien mehr Sicherheit gegeben werden
könne für den Fall, dass das Land länger in einer Zwischenphase
stecke und wirtschaftspolitisch nicht handlungsfähig sei. Für diesen
Fall suche May Unterstützung.

Für «Klarstellungen» zeigte sich auch Juncker offen. Der
Kommissionschef schloss zwar eine Änderung des Austrittsvertrags und
des Backstops ebenfalls aus. Doch sagte er im Europaparlament: «Es
gibt genug Spielraum, um weitere Klarstellungen und weitere
Interpretationen zu geben, ohne das Austrittsabkommen noch einmal
aufzumachen.» Die EU könnte May nach Darstellung von Diplomaten in
einer gesonderten Erklärung zusichern, dass man gemeinsam alles
versuchen werde, den Backstop niemals anzuwenden.

Ob diese Notfalllösung gebraucht wird, hängt von den künftigen
Beziehungen Großbritanniens mit der EU ab. Diese sollen erst in einer
Übergangsphase nach dem Austritt am 29. März 2019 ausgehandelt
werden. Findet man eine Alternative für eine offene Grenze auf der
irischen Insel, käme der Backstop nicht zum Tragen. Die EU wollte
aber die Garantie unbedingt, weil die britischen Ideen zur künftigen
Partnerschaft noch keine Lösung erkennen lassen.

In der Debatte im Europaparlament äußerten sich Abgeordnete
ungeduldig wegen der politischen Blockade in London. Der
CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok meinte aber, dass Mays Gespräche in
Europa ihr womöglich doch noch zu einer Mehrheit im Unterhaus
verhelfen könnten. Vielleicht könne man klarstellen, dass der
Backstop kein «böser Trick der EU sei». Dennoch halte er einen harten

Brexit ohne Deal zunehmend für wahrscheinlich. «Das Problem ist, dass
wir in Großbritannien keinen Partner haben», sagte Brok.

Auch Europastaatsminister Michael Roth warnte in Brüssel: «Die Zeit
läuft aus. Das wissen alle Beteiligten.» Das britische Parlament
werde bald Weihnachtspause machen und erst im Januar zurückkehren.
«Wir müssen uns auf alles vorbereiten - nach wie vor auf einen harten
Brexit, den am Ende ja niemand will», sagte der SPD-Politiker.

Die 27 bleibenden EU-Länder stehen allem Anschein nach geschlossen
hinter der Linie der EU-Kommission, die das Verhandlungsmandat hat.
Auch in der deutschen Innenpolitik herrscht vor allem Kopfschütteln
über Großbritannien. FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff
nannte die Lage dort im MDR «absurdes Theater». Grünen-Europaexpertin

Franziska Brantner sprach von «Brexit-Harakiri».

Die Wirtschaftsverbände BDI und DIHK wandten sich dagegen, das
Brexit-Paket noch einmal aufzuschnüren. Der Präsident des
Großhandelsverbands BGA, Holger Bingmann, warnte aber im SWR vor
einem «völlig ungeordneten Katastrophenszenario». Der europäische
Wirtschaftsverband Business Europe klagte: «Jeder Tag der
Unsicherheit kostet Unternehmen bares Geld.» Firmen bereiteten sich
auf einen chaotischen Brexit vor. Doch sei Europa für ein
No-Deal-Szenario nicht ausreichend gewappnet.