Nach dem Brexit-Debakel: Welche Optionen bleiben jetzt noch? Von Verena Schmitt-Roschmann, Silvia Kusidlo und Christoph Meyer, dpa

16.01.2019 20:20

Es war keine wirkliche Überraschung, aber am Ende doch ein Schock:
Der von EU und britischer Regierung mühsam über Monate ausgehandelte
Austrittsvertrag fiel im Unterhaus durch. Was nun?

Brüssel/London (dpa) - All das Für und Wider, die Warnungen vor Chaos
und Absturz, die Appelle an die Vernunft - es hat alles nichts
genützt. Das Brexit-Abkommen ist im britischen Unterhaus krachend
gescheitert. Nur zehn Wochen vor dem geplanten Austritt brauchen
Großbritannien und die Europäische Union nun dringend einen Plan B.
Die britische Premierministerin Theresa May hat für Montag einen
Vorschlag angekündigt, und die EU blickt gespannt nach London. Doch
bleiben nicht mehr viele Optionen, um einen chaotischen Bruch am
Brexit-Tag 29. März abzuwenden.

1. Eine zweite Abstimmung im Unterhaus

Da die Niederlage mit 432 zu 202 Stimmen dramatisch ausfiel, hat ein
neues Votum über denselben Deal wohl kaum Sinn. Die EU will das
eigentliche Austrittsabkommen nicht mehr aufschnüren - auch
Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht. Gesprächsbereiter zeigt sich die
EU über die «Politische Erklärung» zu den künftigen Beziehungen
beider Seiten, die das Austrittsabkommen ergänzt.

Würde sich Großbritannien langfristig auf eine engere Bindung an die
EU einlassen, zum Beispiel in einer Zollunion, käme man einfacher und
rascher zueinander. «Das wäre kein Problem für uns», sagte
CDU-Brexit-Experte Elmar Brok am Mittwoch. Ähnlich äußerte sich
EU-Chefunterhändler Michel Barnier: Die EU werde darauf eingehen,
falls London seine «roten Linien» überdenke - eben den angekündigte
n
Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt.

Unterm Strich erwartet Brüssel also Bewegung in London, um einen
Ausweg aus der Sackgasse zu weisen. «Ich rufe das Vereinigte
Königreich dringend auf, uns seine Vorstellungen über das weitere
Vorgehen so rasch wie möglich mitzuteilen», forderte
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

Zwei Faktoren könnten einen Umschwung in London fördern, vermutete
Fabian Zuleeg von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre
(EPC): «Zusätzlicher Zeitdruck könnte helfen» - nämlich das immer

näher rückende Austrittsdatum. «Und der wirtschaftliche Druck wird
sich erhöhen», sagte Zuleeg der Deutschen Presse-Agentur.

2. Die Verschiebung des Brexits

Premierministerin May hat eine Verlängerung der Austrittsfrist über
den 29. März hinaus immer und immer wieder abgelehnt. Aber es wäre
nicht das erste Mal, dass die konservative Regierungschefin ihre
Linie ändert. Sie könnte einen Antrag bei den übrigen 27 EU-Staaten
stellen. Und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte
signalisierte am Mittwoch, dass ein Aufschub nicht ausgeschlossen
sei.

Doch wäre das aus EU-Sicht nur sinnvoll, wenn es eine konkrete
Begründung gäbe, etwa eine Neuwahl oder ein zweites Referendum in
Großbritannien. Und es ginge nur für sehr begrenzte Zeit. Denn nach
der Europawahl vom 23. bis 26. Mai konstituiert sich Anfang Juli das
neue Europaparlament. Sind die Briten da noch EU-Mitglied, müssten
auch sie Abgeordnete nach Straßburg schicken. Das nur für eine
Übergangsfrist zu tun, lehnt nicht nur der Fraktionschef der
Europäischen Volkspartei, CSU-Vize Manfred Weber, ab. Sonst hätten
die britischen Abgeordneten noch einmal Mitsprache über den neuen
EU-Kommissionspräsidenten - kurz bevor sie dann doch gehen.

3. Neues Referendum oder Neuwahl

Für ein zweites Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens

wäre die Frist bis Ende Juni sehr knapp. EPC-Fachmann Zuleeg rechnete
vor, dass dies in Großbritannien nach Richtlinien der Wahlkommission
rund fünf Monate Vorlauf bräuchte. Es sei auch unklar, über welche
Frage die Briten abstimmen sollten. Würde das wirklich einen Austritt
ohne Abkommen verhindern? «Man kann nicht davon ausgehen, dass sich
das britische Wahlvolk umentscheidet», meinte Zuleeg.

Eine Neuwahl in Großbritannien könnte eine gütliche Brexit-Lösung
voranbringen, zumal die oppositionelle Labour-Partei mehrheitlich
eine engere Bindung an die EU mit Zollunion und Anbindung an den
EU-Binnenmarkt befürwortet. Labour-Chef Jeremy Corbyn wollte den
Sturz der Regierung von Theresa May am Mittwoch mit einem
Misstrauensvotum erzwingen - und schaffte es wie erwartet nicht.

4. Rückzieher des Brexit-Antrags

Den Weg hat der Europäische Gerichtshof in einem Urteil im Dezember
eröffnet: Großbritannien könnte den 2017 gestellten Antrag auf
EU-Austritt jederzeit einseitig zurückziehen, auch noch kurz vor dem
Austrittsdatum. Das Land bliebe wie bisher Mitglied der EU. Ein
weiterer Austrittsantrag ist damit nicht ausgeschlossen. Man hätte
Zeit gewonnen. Aber: «Das ist sehr unwahrscheinlich», sagte der
SPD-Fraktionschef im Europaparlament, Udo Bullmann, der dpa. Einem
solchen Rückzieher müsste das britische Parlament zustimmen. «Das ist

eine sehr hohe Hürde», meinte auch Zuleeg. In der britischen
Innenpolitik spielte diese Option bisher kaum eine Rolle.

5. Der Sturz über die Klippe

Corbyn verwies in der Parlamentsdebatte am Dienstag darauf, dass das
Unterhaus mehrheitlich gegen einen No-Deal-Brexit sei, also gegen
einen ungeregelten Austritt ohne Vertrag, bei dem dramatische
wirtschaftliche Verwerfungen befürchtet werden. Aber wie die
geordnete Lösung aussehen soll, ist damit immer noch unklar. Da die
britische Politik tief gespalten ist und einige britische Abgeordnete
einen «No Deal» nicht schlimm finden, wird nicht ausgeschlossen, dass
das Land quasi aus Versehen oder aus Zeitnot über die Klippe
schlittert. Für Wirtschaft, Arbeitnehmer und Bürger brächte dies
dramatische Unsicherheit und wohl einen Konjunktureinbruch.
Sozialdemokrat Bullmann meinte aber: «Wenn alle einigermaßen bei
Trost bleiben, muss das nicht sein.»