Wirtschaft fordert nach Nein zum Brexit-Abkommen rasche Lösungen

16.01.2019 16:19

Die Zeit drängt. In rund zehn Wochen will Großbritannien die EU
verlassen. Doch das Brexit-Abkommen der Regierung ist im britischen
Parlament durchgefallen. Die Sorgen der deutschen Wirtschaft wachsen.

Frankfurt/Berlin (dpa) - Verbraucherschützer befürchten
Rechtsunsicherheit, deutsche Unternehmen wirtschaftliches Chaos: Die
Ablehnung des Brexit-Abkommens durch das britische Parlament sorgt
für erhebliche Verunsicherung. Die Spitzenverbände der deutschen
Wirtschaft warnten am Mittwoch vor Konjunkturrückschlägen und
forderten die Unternehmen auf, sich für einen drohenden ungeregelten
EU-Austritt Großbritanniens zu wappnen. Die Finanzmärkte blieben
zunächst weitgehend unbeeindruckt, da der erwartete Ausgang der
Parlamentsabstimmung bei Investoren weitgehend «eingepreist» war.
Auch wird weiter ein Brexit-Deal noch in letzter Minute erhofft.

«Ein «No Deal» bedeutet nicht einfach nur Güterhandel mit Zöllen,

sondern dürfte den Handel zwischen der EU und Großbritannien
vorübergehend komplett zum Erliegen bringen», sagte der Präsident des

Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Dennis Snower. Manche
Ökonomen halten ein zweites Referendum in Großbritannien über die
EU-Mitgliedschaft des Landes für möglich.

Der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller,
forderte, Großbritannien müsse alles dafür tun, damit es einen
geregelten Austritt gebe. «Ein Austritt ohne Abkommen würde nicht nur
die Wirtschaft schädigen, sondern auch Verbraucher im Regen stehen
lassen.» Viele Menschen planten bereits ihren Osterurlaub. «Sie
brauchen dringend Klarheit darüber, welche Regeln dann gelten werden
und ob sie bei einem Urlaub in Großbritannien noch auf ihre gewohnten
Rechte vertrauen können.»

An den Börsen war die Ablehnung des Brexit-Deals kaum zu spüren. Das
Brexit-Chaos scheint auf dem Parkett inzwischen keinen mehr wirklich
zu beeindrucken. Viele Investoren setzen wohl zudem auf irgendeine
Form der Einigung. Der Dax hatte sich am Nachmittag kaum verändert.
Auch der Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50 trat auf der Stelle. Zudem
waren der Euro und das Pfund weitgehend stabil.

Der Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA, Carl Martin Welcker,
bezeichnete es als «schlicht verantwortungslos, dass die britische
Regierungskoalition zehn Wochen vor dem Austrittstermin noch um eine
einheitliche Position streitet». Die Zeit bis zum 29. März dränge,
Großbritannien müsse jetzt rasch Lösungen aufzeigen.

Die deutsche Agrar- und Ernährungsbranche zeigte sich besorgt. «Ein
offener Markt mit dem Vereinigten Königreich hat für uns immer noch
höchste Priorität», sagte Bauernpräsident Joachim Rukwied.
Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU) erklärte, betroffen sei
auch die Fischerei, die bisher wichtige Fangmöglichkeiten in
britischen Gewässern nutze.

Bereits unmittelbar nach der Entscheidung des britischen Parlaments
am Dienstagabend warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie
(BDI) vor dramatischen Folgen. «Unternehmen diesseits und jenseits
des Ärmelkanals hängen weiter in der Luft. Ein chaotischer Brexit
rückt in gefährliche Nähe», sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Joac
him
Lang. Es drohe eine Rezession in der britischen Wirtschaft, die auch
an Deutschland nicht unbemerkt vorüberziehen würde.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag betonte, die Unternehmen
müssten sich jetzt verstärkt vorbereiten. «Ohne Abkommen droht der
Brexit völlig ungeregelt abzulaufen», sagte DIHK-Präsident Eric
Schweitzer in Berlin. Für die deutsche Wirtschaft stehe viel auf dem
Spiel. Großbritannien sei Deutschlands fünftwichtigster
Handelspartner, das Handelsvolumen betrage 122 Milliarden Euro.

Der Verband der Automobilindustrie (VDA) bezeichnete die Ablehnung
des Brexit-Abkommens in London als «politisch fahrlässig». Spuren hat

der bevorstehende Brexit bereits bei der Chemie- und Pharmabranche
hinterlassen. Im vergangenen Jahr sank das Handelsvolumen mit dem
Vereinigten Königreich um fast 10 Prozent auf 16 Milliarden Euro, wie
erste Schätzungen des Branchenverbands VCI zeigen.

Manche Ökonomen halten nun ein zweites Referendum in Großbritannien
für möglich. «Neuwahlen oder ein erneutes Referendum sind damit
wesentlich wahrscheinlicher geworden, aber auch das Risiko eines
ungeordneten Ausstiegs ist deutlich gestiegen», sagte
Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise. Nach Einschätzung von
Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer dürften sich Großbritannien u
nd
die EU darauf einigen, den Austrittstermin um drei Monate auf Ende
Juni zu verschieben, um Zeit zu gewinnen.

«Vermutlich reift in dieser Phase in Großbritannien die Einsicht, die
Briten ein zweites Mal über den Brexit abstimmen zu lassen. Das halte
ich für wahrscheinlicher als einen ungeordneten Brexit, der zu großen
wirtschaftlichen Problemen führen würde», sagte Krämer.

Ifo-Präsident Clemens Fuest forderte Großbritannien und die EU auf,
die Verhandlungen zu einem Brexit-Abkommen wieder aufzunehmen. «Ein
harter Brexit mit seinen riesigen Kosten muss vermieden werden»,
sagte Fuest. Der Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, erwartet dagegen,
«dass ein wirtschaftliches Chaos verhindert wird, zum Beispiel durch
Einzelabkommen für eine Übergangsphase».