Dramatische Stunden: Parlament stimmt über Brexit-Verschiebung ab Von Silvia Kusidlo, Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

14.03.2019 16:06

Das Unterhaus in London hat in dieser Woche zuerst den Brexit-Deal
und dann einen EU-Austritt ohne Abkommen abgelehnt. Nun sollen die
Abgeordneten über eine Verschiebung des Brexit-Termins entscheiden.

London/Brüssel (dpa) - Ratspräsident Donald Tusk will in der
Europäischen Union für einen langen Aufschub des Brexits werben.
Voraussetzung dafür sei, dass Großbritannien eine längere
Verschiebung für nötig hält und in London darüber Konsens herrscht,

teilte Tusk am Donnerstag im Kurznachrichtendienst Twitter mit. Er
kündigte an, für diesen Fall vor dem EU-Gipfel in der kommenden Woche
an die Spitzen der Staatengemeinschaft zu appellieren.

Das britische Parlament stimmt am frühen Abend (ab 18 Uhr MEZ) über
eine mögliche Verlängerung der Frist für den EU-Austritt ab. Es gilt

als sehr wahrscheinlich, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten
dafür aussprechen wird. Voraussetzung für eine Verlängerung der Frist

ist allerdings, dass alle 27 übrigen Mitgliedstaaten das billigen.

Großbritannien wollte sich ursprünglich schon in etwa zwei Wochen -
am 29. März - von der EU loslösen. Das Unterhaus und die Regierung
waren aber im Brexit-Kurs zerstritten, viele Minister traten zurück.

Spannend ist nun vor allem die Frage, zu welchem Zweck und wie lange
die Abgeordneten in London den Brexit verschieben wollen.
Premierministerin Theresa May verknüpfte die Abstimmung über die
Verschiebung indirekt mit einer Entscheidung über ihr mit Brüssel
vereinbartes Brexit-Abkommen. Ihr zufolge sollen die Abgeordneten die
Wahl zwischen einer langen und einer kurzen Verschiebung haben.

Nur wenn die Abgeordneten bis zum 20. März - also einen Tag vor dem
nächsten EU-Gipfel - für ihren Deal stimmten, sei eine kurze
Verschiebung des Austritts bis zum 30. Juni möglich, betonte die
Regierungschefin. Jede längere Verschiebung mache eine Teilnahme
Großbritanniens an der Europawahl (23. bis 26. Mai) nötig. Das neu
gewählte EU-Parlaments will am 2. Juli erstmals zusammentreten.

Zweimal haben die Parlamentarier den Austrittsvertrag, den May im
vergangenen Jahr mit der EU ausgehandelt hatte, schon abgeschmettert
- zuletzt am vergangenen Dienstag. In Großbritannien wird spekuliert,
dass sie die nächste Abstimmung für kommenden Dienstag ansetzen
könnte.

Parlamentspräsident John Bercow wählte am Donnerstag fünf
Änderungsanträge aus, über die am Abend abgestimmt werden soll. Zu
den Forderungen gehören Vorbereitungen für ein zweites
Brexit-Referendum und Abstimmungen über Alternativen zum Abkommen.
Riesen-Ärger gab es bei Brexit-Hardlinern, weil Bercow ihren Antrag,
ein zweites Referendum auszuschließen, nicht ausgewählt hatte.

Ein Antrag soll May die Kontrolle über den Prozess ganz entziehen.
Ein anderer will verhindern, dass sie ihren Deal nochmals dem
Parlament vorlegt.

Mit der Zustimmung Brüssels für eine Brexit-Verschiebung wird
gerechnet. Allerdings gibt es auf EU-Seite noch keine einheitliche
Linie. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte sich zuletzt
für eine höchstens kurze Verschiebung ausgesprochen. Der Brexit solle
vor der Europawahl Ende Mai abgeschlossen sein, erklärte er in einem
Brief an Tusk vom Montag.

Auch Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der rechten
FPÖ sieht eine Verschiebung des Austrittsdatums über den Termin der
EU-Wahl hinaus sehr kritisch. Es habe niemand Verständnis dafür, wenn
der Austritt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgezögert würde.

Am Mittwochabend hatte das Unterhaus gegen einen EU-Austritt ohne
Abkommen gestimmt. Die Abgeordneten verabschiedeten mit 321 zu 278
Stimmen einen Beschluss, der einen ungeordneten Brexit - anders als
von der Regierung gewollt - in jedem Fall ablehnt. Die Entscheidung
ist allerdings rechtlich nicht bindend. Ein sogenannter No Deal hätte
weitreichende negative Folgen für die Wirtschaft und andere Bereiche.

Die britische Abgeordnete Wera Hobhouse von den Liberaldemokraten
rechnet mit einer langen Verschiebung des EU-Austritts. «Der große
Streit um die Seele Großbritanniens (...) dauert länger als drei
Monate», sagte die in Deutschland geborene Politikerin der dpa. Sie
selbst setzt sich für ein zweites Referendum ein. Nach Angaben der
britischen Wahlkommission würde eine solche Volksabstimmung eine
Vorbereitung von vier bis sechs Monaten benötigen.

Der EU-freundliche Finanzminister Philip Hammond glaubt weiter an das
mit Brüssel ausgehandelte Abkommen. Dem Sender Sky News sagte er:
«Ich bin zuversichtlich, dass wir zu einem Deal gelangen werden, der
es uns erlaubt, die EU in geordneter Weise zu verlassen und eine enge
künftige Handelsbeziehung mit der EU zu haben.»

Knackpunkt im Brexit-Streit ist der sogenannte Backstop. Das ist eine
im Austrittsabkommen festgeschriebene Garantie für eine offene Grenze
zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland. Die
Regelung sieht vor, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der
Europäischen Union bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist.

Brexit-Hardliner fürchten, dies könnte das Land dauerhaft an die
Staatengemeinschaft fesseln und eine eigenständige Handelspolitik
unterbinden. Sie hatten daher eine zeitliche Befristung oder ein
einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop gefordert.

Inmitten der Brexit-Querelen warb US-Präsident Donald Trump für ein
Handelsabkommen zwischen den USA und Großbritannien. «Meine Regierung
freut sich darauf, einen umfangreichen Handelsdeal mit Großbritannien
auszuhandeln. Das Potenzial ist unbegrenzt!», twitterte Trump.

May führt seit einer verpatzten Neuwahl im Sommer 2017 eine
Minderheitsregierung an, die die Unterstützung der nordirischen
Partei DUP benötigt. Sie ist auf jede Stimme im Parlament angewiesen.