Eine harte Woche in London: Fünf Lehren aus dem Brexit-Drama Von Verena Schmitt-Roschmann, Silvia Kusidlo und Christoph Meyer, dpa

15.03.2019 16:46

Na, auch den Überblick verloren im großen Chaos um den britischen
EU-Austritt? Diese Woche brachte dramatische Entscheidungen. Und die
nächste dürfte auch nicht ruhiger werden.

London/Brüssel (dpa) - Am Anfang eine überstürzte Rettungsmission in

Straßburg, wo die britische Premierministerin Theresa May am Montag
um allerletzte Zugeständnisse der Europäischen Union feilschte. Am
Ende in London der Wunsch nach Verschiebung des Brexits. Was für eine
Woche.

Wer auf der Achterbahn der Ansagen und Widerworte, der Voten und
Volten aus der Kurve getragen wurde, ist sicher nicht allein. Zwei
Wochen vor dem ursprünglich angekündigten EU-Austritt Großbritanniens

versinkt das historische Projekt in einem beispiellosen
Durcheinander. Fünf Lehren lassen sich dennoch ziehen nach diesen
bemerkenswerten Tagen.

1. WIR WISSEN, WAS NICHT KOMMT

Das britische Unterhaus hat drei wichtige Entscheidungen getroffen:
Es stimmte gegen den von May mit viel Mühe und nächtlichem Einsatz
nachgebesserten EU-Austrittsvertrag. Es stimmte aber auch gegen einen
EU-Austritt ohne Vertrag. Und es beantragte folgerichtig zuletzt eine
Verschiebung des vor zwei Jahren festgelegten Brexit-Termins
29. März. Die Entscheidung über die Verlängerung soll beim EU-Gipfel

am nächsten Donnerstag fallen. Diplomaten in Brüssel halten es für
sehr wahrscheinlich, dass die übrigen 27 EU-Staaten den Aufschub
billigen werden. Dann passiert am 29. März also: nichts. Wie lange
Großbritannien noch Mitglied bliebe, ist offen. Das hängt auch davon
ab, ob May vielleicht doch noch irgendwie eine Mehrheit für den
bereits zweimal abgelehnten Brexit-Vertrag zusammenbekommt.

2. EINE REGIERUNGSCHEFIN REGIERT OHNE MEHRHEIT

Die schier unverwüstliche Regierungschefin geht schwer angeschlagen
aus dieser Woche. Nicht nur, dass Theresa May bei den unendlichen
Debatten im Unterhaus zeitweise vor Heiserkeit die Stimme wegblieb.
Mehrfach stimmten Teile ihrer Konservativen Partei gegen die eigene
Premierministerin - gegen den Brexit-Deal, gegen eine weichere Form
der Absage an einen Ausstieg ohne Vertrag. Auch beim Votum für eine
Verlängerung versagten May mehr als die Hälfte ihrer Fraktion und
sogar mehrere Kabinettsmitglieder die Gefolgschaft. Unter normalen
Umständen hätte sie wohl bereits zurücktreten oder eine Neuwahl
ansetzen müssen. Doch auf eine Alternative zu May können sich die
Abgeordneten auch nicht einigen.

3. EIN GESPALTENES LAND SUCHT KOMPROMISSE

Dafür zeigte das britischen Parlament unter dem Druck der Ereignisse
Zeichen der Erkenntnis, dass es ohne Kompromisse in der Demokratie
nicht geht. Oppositionsführer Jeremy Corbyn kündigte den Versuch an,
mit Abgeordneten der regierenden Tories einen Konsens über einen
weicheren Brexit mit engerer Bindung an die EU zu suchen. Allerdings
scheitert auch Corbyn immer wieder mit seinen Vorstößen, unter
anderem für ein zweites Referendum. Und die Abgeordneten konnten sich
mehrheitlich auch nicht dazu durchringen, May die Kontrolle über den
Brexit-Prozess zu entreißen und selbst den weiteren Kurs festzulegen.
Die Regierung deutete jedoch ebenfalls Kompromissbereitschaft an.
Sollte der Brexit-Deal auch ein drittes Mal abgelehnt werden, seien
Abstimmungen über Alternativen denkbar, sagte Vize-Regierungschef
David Lidington. Brüssel wartet dringend auf einen Konsens in London.

4. DIE EU STECKT IN DER KLEMME

Die Ereignisse in London treiben die EU zum Handeln. Die übrigen 27
Länder blicken ratlos auf das Wirrwarr, wollen aber auch nicht den
Schwarzen Peter für einen gefürchteten Chaos-Brexit. Bei der
Verschiebung nächste Woche geht es deshalb vor allem um die Frage:
Wie lange? Will die Gemeinschaft wirklich womöglich noch ein Jahr
oder mehr ein Mitglied in ihren Reihen halten, das sich schon halb
verabschiedet hat? Droht dann die Brexit-Endlosschleife? Die Lust ist
auch bei jenen EU-Politikern gering, die die Entscheidung der Briten
von 2016 immer wieder öffentlich bedauert haben.

Die EU will sich vor der Europawahl im Mai endlich wieder um sich
selbst und ihre künftige Richtung kümmern. Aber so oder so wird das
Thema nicht verschwinden. Die Trennung sei ja nur der Anfang, sagt
EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Das wichtigste komme erst noch:
die Ordnung der künftigen Beziehungen zu Großbritannien.

5. WIR WISSEN NICHT, WAS KOMMT

Die nächste Woche dürfte politisch ähnlich hohe Wellen schlagen wie
die vergangenen Tage. Trotz der Entscheidungen in London sei die
Gefahr eines ungeregelten Austritts nicht gebannt, warnt Barnier:
«Die Situation ist ernst.» Bis spätestens Mittwoch will May die
britischen Abgeordneten zum dritten Mal fragen, ob sie ihren
Brexit-Deal nicht vielleicht doch noch mittragen. Dann käme
Großbritannien aus ihrer Sicht mit einer kurzen Verlängerung der
Austrittsfrist bis 30. Juni aus.

Gelingt dies nicht und auch kein anderer Konsens, müsste
Großbritannien die EU nach Mays Darstellung um eine viel längere
Verschiebung bitten und auch an der Europawahl teilnehmen. Und je
länger der Aufschub, desto wahrscheinlicher wäre eine Abkehr vom
Brexit. Diese Aussicht, so hofft May offenbar, könnte ausreichend
viele Brexit-Hardliner so verschrecken, dass der Deal doch noch
durchgeht.