Bürokratiemonster Brüssel? Zwischen Klischee und Kampfbegriff Von Michel Winde, dpa

12.05.2019 18:39

Mehr als jeder zweite Deutsche verbindet die EU mit «wuchernder
Bürokratie». Diesen Verdruss nutzen die Parteien im Europawahlkampf.

Aber was bedeutet Bürokratie eigentlich? Ist es wirklich so schlimm?
Und was hat Edmund Stoiber damit zu tun?

Brüssel (dpa) - Wo die Europäische Union weniger aktiv sein sollte?
Für Manfred Weber ist die Sache klar: «Ich erfahre in meinen
Gesprächen überall in Europa, dass die Menschen wirklich genug haben
von der Bürokratie.» Weniger EU-Bürokratie als eines der drängendst
en
Bürger-Anliegen, so bestreitet CSU-Politiker Weber, Spitzenkandidat
der Europäischen Volkspartei, den Wahlkampf für die Europawahl Ende
des Monats. Deshalb will der 46-Jährige - sollte er neuer Chef der
EU-Kommission werden - 1000 veraltete EU-Vorschriften abschaffen.
Welche das sein sollen, hat er bisher nicht gesagt.

Brüssel, das Bürokratiemonster. Es ist ein Klischee, das nicht nur
Weber bemüht. Auch die anderen Parteien im Bundestag fordern in ihren
Wahlprogrammen, dies oder jenes in der EU müsse entbürokratisiert
werden. Die FDP widmet dem Thema ein ganzes Kapitel, die AfD wirft
der Staatengemeinschaft «Zentralismus und Bürokratie» vor und fordert

«Wettbewerb statt Bürokratie». Und auch Österreichs Bundeskanzler
Sebastian Kurz schreibt hemdsärmelig auf Twitter: «Der Hausverstand
muss in der EU wieder den Ton angeben. Wir brauchen weniger Regeln
und weniger Bürokratie.»

Dass Parteien und Politiker mit dem Thema punkten wollen, ist
nachvollziehbar. «Was bedeutet die EU für Sie?», fragt das
Allensbach-Institut regelmäßig. Mehr als jeder zweite Deutsche (57
Prozent) wählte 2018 die Antwortmöglichkeit «Wuchernde Bürokratie,

ein großer, schwer zu durchschauender Beamtenapparat». 2010 waren es
noch zehn Prozentpunkte weniger.

Und es stimmt ja: Die EU ist kompliziert. Es gibt etliche
Institutionen; ständig kommen neue Regeln hinzu; Fördergelder zu
beantragen, ist eine Wissenschaft für sich; und dann sind da noch
Zehntausende Beamte - was machen die eigentlich alle?

Der Vorwurf ist also nicht ganz unbegründet. Das hat auch die
EU-Kommission, die Verwaltung der 28 EU-Länder, erkannt. Fragt man
bei der Behörde, was sie dagegen tut, erhält man eine lange Liste.

Die Kommission habe unter dem scheidenden Chef Jean-Claude Juncker 75
Prozent weniger Gesetze vorgeschlagen als die Vorgänger. 134
Vorschläge habe man zudem zurückgezogen, viele Vorschriften
vereinfacht. Man wolle nur dort aktiv werden, wo der Bürger
tatsächlich einen Nutzen davon hat. Bereits 2015 hatte die Kommission
angekündigt, Gesetze sollten verständlicher und einfacher handhabbar,
unnötige Kosten vermieden werden.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verteidigte die EU jüngst
gegen den Vorwurf überbordender Bürokratie. Mit Blick auf die 32 000

Kommissionsbeamten sagte er in der Zeitschrift «DB mobil»: «Das
klingt viel, aber wenn man sich die größeren Städte in Deutschland
anschaut, dann sieht man, dass eine Millionenstadt bei uns etwa
17 000 Beamte und Angestellte hat. Dabei leben in der Europäischen
Union fünfhundertmal so viele Menschen.» Laut Kommission gehen sechs
Prozent des EU-Budgets für die Verwaltung drauf, von 2014 bis 2020
würden jedoch jährlich 1,5 Milliarden Euro eingespart.

In den vergangenen fünf Jahren hätten die EU-Institutionen zudem fünf

Prozent ihres ständigen Personals abgebaut. Das Einstiegsgehalt sei
verringert, Aufstiegsmöglichkeiten verzögert und Pensionen reduziert
worden. Ein Nebeneffekt davon sei, dass es in vielen Ländern - auch
in Deutschland - schwieriger werde, geeignetes Personal zu finden.

Es wird also etwas getan gegen zu viel Bürokratie - dennoch hält sich
der Vorwurf hartnäckig. Weshalb?

«Der Bürger ist janusköpfig», sagt einer, der es wissen muss. Edmun
d
Stoiber (CSU), ehemaliger bayrischer Ministerpräsident, hat von 2007
bis 2014 eine Arbeitsgruppe in der EU-Kommission zum Bürokratieabbau
in der EU geleitet. Einerseits gebe es ein umfassendes
Sicherheitsbedürfnis für alle Lebenslagen, das die Menschen von der
EU garantiert haben wollten, sagte Stoiber der Deutschen
Presse-Agentur in Brüssel. Andererseits beschwerten sie sich über zu
viele Regeln. «Diesen Widerspruch kann man nicht auflösen.» Zugleich

würden die Ansprüche - egal ob im Umwelt- oder Verbraucherschutz -
immer höher. So hat die EU zuletzt etwa ein Einwegplastik-Verbot
eingeleitet oder für einen besseren Datenschutz gesorgt.

Stoiber sagt jedoch auch, dass es bei der EU-Kommission mittlerweile
ein Bewusstsein dafür gebe, dass bei neuen Gesetzen auch der
bürokratische Aufwand berücksichtigt werden müsse - und dass nicht
alles auf europäischer Ebene geregelt werden müsse. Stoibers
Expertengruppe hat dazu beigetragen, mehr als 33 Milliarden Euro
jährlich an Bürokratiekosten einzusparen. Mehr als die Hälfte davon
dadurch, dass Finanzämter von Unternehmen statt Rechnungen in
Papierform auch elektronische Belege bei der Umsatzsteuer
akzeptieren. Die Klagen über zu viel Bürokratie kommen häufig aus der

Wirtschaft.

Wie Stoiber beschäftigt sich auch Pascale Cancik seit Jahren mit dem
Thema Bürokratie und EU-Kritik - allerdings aus wissenschaftlicher
Perspektive. Die Rechtswissenschaftlerin der Universität Osnabrück
sieht in dem Wort «Bürokratie» auch einen Kampfbegriff, der vor all
em
deshalb so gut funktioniert, weil er so vielschichtig ist und als
Kritikbegriff eine lange Tradition habe. Ein Politiker sage
«Bürokratie» - und im Kopf seiner Zuhörer entstehe «eine ganze
Hintergrundwand von Vorstellungen»: «Wir wissen, dass es irgendwie
schlecht ist, dass es schriftlich ist und kompliziert, wir denken an
graue Beamte und viel Papierkram», sagt Cancik. «In einer stark
emotionalisierenden Gesellschaft funktioniert das sehr gut.»

Von diesem «Charme des Vagen» profitierten Politiker. Cancik sieht in
der Ungenauigkeit jedoch ein grundsätzliches Problem. «Die
Bürokratie-Rhetorik macht unklar, worum es geht, und die
erforderliche Kritik wird dadurch eher verdrängt als dass sie
geleistet wird.» Vordergründig sorgt Bürokratie-Kritik bei vielen f
ür
Zustimmung - worum es konkret geht, bleibt allerdings oft unklar.

Cancik zufolge setzen Politiker diesen Mechanismus bewusst ein. Der
Verweis auf «die Bürokratie» ermögliche ihnen, sich von Dingen - an

denen sie womöglich sogar beteiligt waren - zu distanzieren. Das
Begriffspaar «Brüsseler Bürokratie» sei folglich eine doppelte
Distanzierung. Cancik spricht vom «Verschieben und Verschleiern
eigener Verantwortung». Ihr Aufsatz zu dem Thema heißt «Die EU al
s
Bürokratie der Anderen - zur Semantik gegenwärtiger EU-Kritik.»

Politiker machen es sich mit dem Verweis auf zu viel Bürokratie
mitunter also einfach. Und der Blick auf die Umfragen gibt ihnen ja
Recht. «So ein Narrativ, so eine Erzählung kriegt eine Eigendynamik»,

sagt Cancik. Und Stoiber sagt: «Der Vorwurf ist immer noch da und
wird auch bleiben.»