Urteil: Arbeitgeber müssen Arbeitszeiten systematisch erfassen Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

14.05.2019 17:08

Überstunden machen viele - aber längst nicht alle werden auch
notiert. Der Europäische Gerichtshof fordert nun Erfassungssysteme
für alle. Und erschrickt auch deutsche Arbeitgeber.

Luxemburg/Berlin (dpa) - Alle Dienstzeiten, alle Überstunden, jede
Email nach Feierabend: Arbeitgeber sollen verpflichtet werden, die
volle Arbeitszeit aller Beschäftigten systematisch zu erfassen. Das
folgt aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Dienstag.
Die Gewerkschaften begrüßten dies als Schutz vor unbezahlten
Überstunden und Verfügbarkeit rund um die Uhr. Arbeitgeber warnen vor
neuer Bürokratie. Ob Deutschland nun Gesetze ändern muss, wird nach
Angaben von Arbeitsminister Hubertus Heil erst noch geprüft.

Das EuGH-Urteil (Rechtssache C-55/18) löste in Deutschland sofort
heftige Debatten aus, denn es könnte große Auswirkungen auf den
Arbeitsalltag haben. Längst nicht in allen Branchen werden
Arbeitszeiten systematisch erfasst: Nach Gewerkschaftsangaben sind in
Deutschland mindestens 20 Prozent der Arbeitnehmer außen vor, unter
anderem im Außendienst oder im Home Office.

Auch für sie fordert der EuGH ein «objektives, verlässliches und
zugängliches System» zur Messung der geleisteten täglichen
Arbeitszeit. Alle EU-Staaten müssten dies durchsetzen, entschieden
die obersten EU-Richter. Denn ohne solche Systeme könnten weder die
geleisteten Stunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der
Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden. Damit sei es
für Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ih
re
Rechte durchzusetzen. Jeder Arbeitnehmer habe jedoch ein Grundrecht
auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und
wöchentliche Ruhezeiten.

In dem Fall vor dem EuGH hatte eine Gewerkschaft in Spanien geklagt,
wo die Rechtslage bis vor wenigen Tagen ähnlich war wie in
Deutschland: Es bestand nur eine Pflicht zur Aufzeichnung der
Überstunden - nicht der gesamten Arbeitszeit. Inzwischen hat die
sozialistische Regierung in Spanien eine allgemeine Pflicht zur
Arbeitszeiterfassung eingeführt. Sie trat am Sonntag in Kraft und
lief keineswegs reibungslos an. Zahlreiche Unternehmen hätten die
nötigen Vorkehrungen nicht getroffen, sagte eine Sprecherin des
Gewerkschaftsdachverbandes CCOO der dpa.

In Deutschland hoffen die Gewerkschaften nach dem EuGH-Urteil auf
Fortschritte. «Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel
vor - richtig so», kommentierte Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied
beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Die Zahl der unbezahlten
Überstunden in Deutschland sei inakzeptabel hoch und komme «einem
Lohn- und Zeitdiebstahl gleich». Für Arbeitnehmer könne dies ernste
gesundheitliche Folgen haben.

«Permanenter Standby-Modus und Entgrenzung können krank machen, eine
Erfassung der Arbeitszeit ist deshalb wichtig, um sie zu
beschränken», betonte Buntenbach. Auch Heimarbeit oder Außendienst
müsste nach dem Urteil künftig registriert werden, etwa über Apps
oder am Laptop. Wird abends von zuhause noch dienstlich telefoniert
oder werden E-Mails geschrieben, müssten danach elf Stunden Ruhezeit
eingehalten werden.

Die Gewerkschaft Verdi sprach von einem wichtigen Schritt zum
besseren Schutz von Arbeitnehmern: «Arbeitszeit ist in Europa keine
dokumentations- und kontrollfreie Zone mehr.» Die Ärztegewerkschaft
Marburger Bund forderte, mit Arbeitszeit grundlegend anders
umzugehen. Kliniken dürften Höchstarbeitszeitgrenzen nicht länger
missachten.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände übte indes
Kritik. Das Urteil sei wie aus der Zeit gefallen, erklärte der BDA:
«Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der
Stechuhr im 21. Jahrhundert.» Die Entscheidung dürfe keine Nachteile
für Arbeitnehmer mit sich bringen, die flexibel arbeiteten. Auch
künftig kann der Arbeitgeber aus Sicht des Verbands seine
Beschäftigten verpflichten, ihre Arbeitszeit selbst aufzuzeichnen.

«Diese Entscheidung geht in die völlig falsche Richtung», erklärte

auch der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. «Insbesondere Start-ups
arbeiten nicht nach der Stechuhr wie vor 100 Jahren», ergänzte der
Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Start-ups, Florian Nöll. «Die
Flexibilität, die Arbeitnehmer selbst einfordern, wird durch solche
Vorgaben eingeschränkt.» Die Unternehmen befürchten Bürokratie, abe
r
auch weniger flexiblen Einsatz ihrer Mitarbeiter.

Schon bisher müssen allerdings Überstunden erfasst werden - was aus
Sicht von Experten bedeutet, dass eigentlich auch schon heute die
reguläre Arbeitszeit aufgezeichnet werden müsste. Auch
Arbeitsminister Heil sagte: «Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist
notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern.» Es gehe
schließlich um Löhne und Rechte, das sei «keine überflüssige
Bürokratie.» Vor einer möglichen Gesetzesänderungen werde er das
Gespräch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern suchen, «damit wir das
Richtige tun und nicht übers Ziel hinausschießen».