Wähler umgarnen im Eilschritt - Wenn sechs Europa-Kandidaten streiten Von Michel Winde, dpa

16.05.2019 11:59

Es war die einzige Europawahl-Debatte, zu der die sechs größten
Fraktionen im EU-Parlament ihre Topleute schickten. Eineinhalb
Stunden hatten sie, um die Zuschauer von sich zu überzeugen. Für
einen fundierten Einblick zu wenig - und dennoch hat es sich gelohnt.

Brüssel (dpa) - Der Kampf gegen den Klimawandel mausert sich zum
Topthema des Wahlkampfes der Europawahl. Auch beim Kandidatenduell am
Mittwochabend in Brüssel wurde heftig darüber gestritten.
CSU-Politiker Manfred Weber, der als Spitzenkandidat der
konservativen Europäischen Volkspartei gute Chancen auf die Nachfolge
von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat, wurde von seinen
Kontrahenten als Bremser attackiert. Eindrücke eines Abends, der
einen guten Überblick verschaffte:

DAS FORMAT:

90 Minuten, 6 Kandidaten, 3 Journalisten. Es war die einzige
Veranstaltung im Wahlkampf, bei der die Top-Kandidaten der sechs
größten Fraktionen im Europaparlament gegeneinander zum Rededuell
antraten. Je 60 Sekunden Zeit für eine Antwort hatten Weber, Frans
Timmermans (Sozialdemokraten), Margrethe Vestager (Liberale), Ska
Keller (Grüne), Nico Cué (Linke) und Jan Zahradil
(Liberal-Konservative Reformer). Moderiert wurde die Debatte unter
anderen vom deutschen ARD-Journalisten Markus Preiß.

DER INHALT:

Für die Auswahl der Themen war die Europäische Rundfunkunion
zuständig, ein Zusammenschluss Dutzender Rundfunkanstalten aus 56
europäischen Staaten. Die Macher waren um ein möglichst breites
Programm bemüht. Unter anderem ging es um Arbeitslosigkeit,
Migration, Klimawandel und Europas Rolle in der Welt. Das sind in
etwa die Themen, die Europäern jüngsten Umfragen zufolge am meisten
unter den Nägeln brennen.

DIE STREITPUNKTE:

Einmal mehr sorgte der Kampf gegen den Klimawandel für Streit.
Timmermans und Keller warfen Weber vor, seine Partei trete bei dem
Thema auf die Bremse. Timmermans forderte abermals eine Steuer auf
Flugbenzin sowie eine CO2-Steuer für alle Unternehmen. Zugleich
versuchte er bei dem Thema eine Allianz mit den Grünen und den Linken
zu schmieden. Sein Appell: «Lasst uns dafür sorgen, dass die nächste

EU-Kommission das Thema an die Spitze der Agenda setzt.» Weber lehnt
die verpflichtende Abgabe auf den Ausstoß von klimaschädlichem
Kohlendioxid ab und setzt auf Innovation.

Auch ansonsten wurden Unterschiede zwischen den Kandidaten deutlich.
Jan Zahradil von den Liberal-Konservativen Reformern forderte etwa,
die EU-Kommission solle sich weniger in die Angelegenheiten der
Mitgliedstaaten einmischen. Zudem lehnte er es ab, dass jeder
EU-Staat Asylbewerber aufnehmen sollte. Timmermans, Keller, Vestager
und Cué sprachen sich hingegen dafür aus.

WIE DIE KANDIDATEN SICH GESCHLAGEN HABEN:

Innerhalb der 90 Minuten hatte jeder Einzelne nur wenig Zeit. Vor
allem für weniger informierte Zuschauer lieferte der Abend aber einen
guten Überblick. Die meisten Verbalangriffe musste Weber parieren -
was ihm meist gelang. Eigene Akzente konnte er aber kaum setzen. Dies
gelang eher Timmermans, der für Vorschläge wie das Wahlrecht ab 16
Jahren lauten Applaus bekam. Zudem drückte er sich griffig aus - etwa
bei seinem Kommentar zum britischen EU-Austritt: «Schaut euch an, was
der Zwist über den Brexit dem Vereinigten Königreich angetan hat.
Heute sieht Großbritannien aus wie «Game of Thrones» auf Steroiden.
»

Prägnante Wortmeldungen gelangen zwar auch Vestager («Für mich ist
ein Steuerparadies ein Ort, wo Unternehmen ihre Steuern zahlen»),
insgesamt blieb die sonst so schlagfertige Dänin aber eher blass.
Eigene Ideen brachte sie kaum unter.

WER HAT CHANCEN, NÄCHSTER PRÄSIDENT DER EU-KOMMISSION ZU WERDEN?

Als Kandidaten der wohl größten Fraktionen haben Weber und Timmermans
eigentlich die besten Aussichten. Webers EVP dürfte den Vorhersagen
zufolge wieder vor den Sozialdemokraten landen. Die Staats- und
Regierungschefs wollen sich allerdings nicht darauf festlegen, dass
der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion auch Kommissionschef wird.
Etliche von ihnen haben sich schon skeptisch gegen dieses Prinzip
geäußert, und letztlich haben sie das Vorschlagsrecht für den Posten.

Deshalb könnten Weber andere in die Quere kommen - etwa der Franzose
Michel Barnier, der sich als Brexit-Chefunterhändler viel Respekt
erarbeitet hat.

NACH DEM DUELL IST VOR DEM DUELL:

Weber und Timmermans haben vergangene Woche bereits in der
ARD-«Wahlarena» miteinander diskutiert. Damals schalteten im Schnitt
2,03 Millionen Zuschauer ein. Das war ein Marktanteil von 6,9
Prozent. Am Mittwoch war das Interesse an den Fernsehbildschirmen
noch geringer. Phoenix schalteten laut Media Control 190 000
Zuschauer ein - ein Marktanteil von 0,7 Prozent. Bei Tagesschau24
waren 30 000 Zuschauer (0,1 Prozent) dabei. Allerdings wurde die
Debatte online auch auf mehreren Seiten gestreamt.

An diesem Donnerstag (20.15 Uhr) präsentieren das ZDF sowie der
österreichische ORF das Rückspiel. Ab 22.15 Uhr diskutieren im ZDF
dann die deutschen Spitzenkandidaten von FDP, Linken, Grünen und AfD.