Hopp oder topp? Warum der Spielraum beim Brexit kleiner wird Von Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

13.06.2019 15:16

No-Deal oder Exit vom Brexit? Die Briten sind in Sachen EU-Austritt
gespalten. Auch der nächste Londoner Regierungschef wird keine freie
Hand haben. Und die EU steckt im Dilemma.

London/Brüssel (dpa) - Das Rennen um die Nachfolge von
Premierministerin Theresa May in Großbritannien nimmt Fahrt auf - und
dabei werden die Optionen beim Brexit immer enger. Am Donnerstag
stimmten die konservativen Abgeordneten im Unterhaus erstmals ab und
warfen zunächst die drei schwächsten der zehn Bewerber raus, die an
die Partei- und die Regierungsspitze drängen. In den nächsten Tagen
wird weiter gesiebt. Aber wer es auch wird: Mit hoher
Wahrscheinlichkeit ist es ein Brexit-Hardliner.

Wie hältst du's mit dem No-Deal? Das war die Gretchenfrage für die
Kandidaten. Gemeint ist der von vielen gefürchtete ungeregelte
Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der die
Wirtschaft und die Bürger schwer belasten dürfte. Doch gilt der
abrupte Bruch mit Brüssel bei Brexit-Anhängern immer mehr als reine
Lehre.

Favorit Boris Johnson, der in der ersten Abstimmungsrunde am
Donnerstag bei weitem die meiste Unterstützung hatte, stellt den
No-Deal-Brexit offen in den Raum. Zwar sei er nicht darauf aus,
beteuerte er in seiner Bewerbungsrede am Mittwoch. Aber die bereits
zwei Mal verlängerte Austrittsfrist bis 31. Oktober müsse unbedingt
eingehalten werden. Das Land müsse auf alles vorbereitet sein, sagte
der frühere Außenminister. Sein Versprechen: Er werde einen «besseren

Deal» aushandeln als die scheidende Premierministerin May, die mit
ihrem Brexit-Abkommen im Parlament dreimal scheiterte.

Nachbesserungen haben auch andere Bewerber angekündigt, verbunden mit
der Drohung, sonst eben ohne Vertrag aus der EU zu gehen. Nur
ignorieren sie dabei die unmissverständliche Ansage aus Brüssel: «Das

Austrittsabkommen wird nicht nachverhandelt», sagte Kommissionschef
Jean-Claude Juncker gerade erst wieder. Wenn beide Seiten hart
bleiben - ist dann ein No-Deal-Brexit überhaupt noch abzuwenden?

Nach Mays Abgang sei man einer Lösung nicht näher gekommen,
analysiert Fabian Zuleeg vom European Policy Centre in Brüssel. Jeder
Versuch, einen besseren Deal rauszuholen, sei zum Scheitern
verurteilt. Und im britischen Unterhaus gebe es für keine der
Optionen eine Mehrheit. «Das könnte bedeuten, dass das Vereinigte
Königreich jetzt die einfache Wahl hat zwischen einem No-Deal und der
Variante, die EU doch nicht zu verlassen», mutmaßt Zuleeg.

In Brüssel scheint der Schrecken eines No-Deal etwas abgeklungen -
das suggerierte jedenfalls die EU-Kommission in der jüngsten Bilanz
zum Stand der Vorbereitungen. Zusätzliche Notfallpläne seien nicht
nötig, hieß es da, denn die EU-Staaten seien «auf alle Szenarien in
hohem Maße vorbereitet». Zwar seien «erhebliche Störungen für B
ürger
und Unternehmen» und schwerwiegende wirtschaftliche Folgen zu
erwarten, aber diese wären ungleich schlimmer für Großbritannien.

Dort ist die Bevölkerung immer stärker polarisiert in Befürworter
eines No-Deal-Brexits und denen, die den Austritt am liebsten ganz
abwenden wollen. So wurden bei der Europawahl Ende Mai die großen
Volksparteien abgestraft, die beim Brexit intern zerstrittenen
Konservativen und Labour. Stattdessen triumphierten die Brexit-Partei
von Nigel Farage auf der einen und die proeuropäischen
Liberaldemokraten auf der anderen Seite.

Die EU-Befürworter hoffen darauf, dass das Unterhaus einen No-Deal
abwendet. Immerhin hat dort eine klare Mehrheit zweimal dagegen
gestimmt, ohne Vertrag zu gehen. Doch scheiterten EU-freundliche
Abgeordnete am Mittwoch mit dem Versuch, der Regierung für einen Tag
die Kontrolle über den Parlamentskalender zu entreißen, um dem
nächsten Premierminister die Hände zu binden.

Als letzte Option bliebe, den neuen Regierungschef zu stürzen,
folgerte Tory-Rebell Dominic Grieve und drohte: «Ich werde nicht
zögern, das zu tun.» Tatsächlich sind die Mehrheitsverhältnisse im

Unterhaus dermaßen knapp, dass eine Handvoll Abgeordneter dafür
ausreichen würde. Die Folge wäre eine Neuwahl. Theresa Mays
Nachfolger könnte als Regierungschef mit der kürzesten Amtszeit in
die Geschichte Großbritanniens eingehen.

Doch an dem zugrundeliegenden Dilemma würde das kaum etwas ändern.
Das Parlament könnte sich nach einer Wahl in der gleichen Sackgasse
wiederfinden wie bisher. In dem Fall könnte dann vielleicht doch noch
ein zweites Referendum über den EU-Austritt folgen.

Neuwahl oder neue Volksabstimmung, das wäre für die EU ein Grund, das
Austrittsdatum noch einmal zu verschieben - falls Großbritannien das
beantragen sollte. Ohne neue Perspektive ist ein Ja aus Brüssel
hingegen ungewiss. Gefordert ist Einstimmigkeit der 27 Länder.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hätte schon die letzte
Fristverlängerung fast blockiert. Und inzwischen zweifeln auch andere
Staaten am Sinn, die Ungewissheit in die Länge zu ziehen.

Nächste Woche soll der EU-Gipfel die Lage beim Brexit kurz beraten.
Doch noch schiebt man in Brüssel die Frage am liebsten weg:
«Brexit-Pause» nennt Juncker das. Erst wenn der Oktober-Termin näher

rückt, dürfte der Druck wieder steigen.

Vor allem die irische Grenzfrage ist ja weiter ungelöst. Das
EU-Mitglied Irland müsste bei einem No-Deal von heute auf morgen
Waren aus dem britischen Nordirland auf dem Weg in den EU-Binnenmarkt
kontrollieren, und niemand weiß, wie das ohne politisch heikle
Grenzposten gehen soll. Und die wirtschaftlichen Folgen eines
Chaos-Brexits werden viele schmerzlich treffen, auch Deutschland.

Die Kommission stellt nüchtern fest, dass «ein Szenario ohne Abkommen
(No-Deal) am 1. November 2019 ein durchaus möglicher, wenn auch nicht
erstrebenswerter Ausgang» sei. Im Stillen hofft man weiter, dass
London eine Lösung findet. Viel mehr als zuschauen, kann die EU in
den nächsten Wochen nicht.