Mission Europa: Von der Leyen im Brüsseler Kreuzverhör Von Michel Winde, Carsten Hoffmann und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

10.07.2019 19:54

Von der Leyen muss Farbe bekennen. Vor Europaabgeordneten steht die
deutsche Verteidigungsministerin als Kandidatin für das EU-Spitzenamt
Rede und Antwort. Ein Livestream macht es zum ersten großen Statement
in der neuen Rolle.

Brüssel (dpa) - Am Anfang wird Ursula von der Leyen persönlich. Sie
sei in Brüssel geboren, habe im benachbarten Tervuren gelebt und
zusammen mit Franzosen, Italienern und Niederländern die Europaschule
besucht. «Das war mein erster Eindruck von Europa», sagt die
60-Jährige am Mittwoch vor Europaabgeordneten in Brüssel. Den Geist
Europas habe sie gelebt und geatmet.

Jahrzehnte später will von der Leyen zurück auf die Brüsseler Bühne
.
Seit einer Woche ist sie nominiert für das vielleicht mächtigste Amt
der EU: Präsidentin der Europäischen Kommission. Und weil nicht nur
die Kandidatin selbst, sondern auch das Europäische Parlament von der
Personalie überrumpelt wurde, durchläuft sie nun eine hektische
Werbetour von einer Fraktion zur nächsten in der Hoffnung auf
Unterstützung bei ihrer Wahl nächste Woche.

Erstmals muss sie öffentlich Farbe bekennen - in einer von den
Liberalen im Internet übertragenen Anhörung. Nach einigen Minuten
nervöser Anspannung findet die deutsche Verteidigungsministerin dabei
den vertraut entschlossenen Ton. In einigen Punkten legt sie sich
fest, doch hält sie sich viele Optionen offen. Nur niemanden
verprellen wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung im
Parlament, wo eine Mehrheit immer noch nicht sicher ist.

Nur acht Tage hat die Überraschungskandidatin seit ihrer Nominierung
Zeit gehabt, sich in die Untiefen der EU-Politik einzuarbeiten. Ist
ein klimaneutrales Europa schon 2050 machbar? Ist eine CO2-Steuer
sinnvoll oder die Ausweitung des Europäischen Emissionshandels? Kann
der Brexit vielleicht doch noch nachverhandelt werden? Geht das
eventuell schneller mit dem Ausbau der Grenz- und Küstenwache
Frontex? Muss der Binnenmarkt vertieft werden? Braucht es eine
europäische Armee? Einen neuen Rechtsstaatsmechanismus?

Die deutsche Verteidigungsministerin schlägt sich passabel bei all
diesen Fachfragen und sendet einige wichtige Signale: Auf das Ziel
einer klimaneutralen EU legt sie sich fest - so wie die Mehrheit im
Parlament. Auf eine strikte Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit -
die den Liberalen besonders wichtig ist. Auf eine mögliche
Erweiterung der Euro- und der Schengenzone - auf die einige neuere
Mitgliedstaaten hoffen.

Nahtlos wechselt die CDU-Politikerin zwischen Deutsch, Französisch
und Englisch, lächelt entschlossen. Und sagt auch immer ein bisschen
von dem, was ihre Gesprächspartner mit Sicherheit hören wollen. So
nennt sie das liberale Anliegen einer «Demokratie-Konferenz» eine
«brillante Idee», die sie vollen Herzens unterstützen könne.
Bürgerdialoge, die in konkrete Gesetze und Reformen für mehr
Demokratie münden sollen: «Ich werde mir das sehr gerne vornehmen.»


Dann macht sie sich für einen neuen Spitzenkandidatenprozess stark,
wohl wissend, dass das vielen Abgeordneten ein wichtiges Anliegen
ist. Denn diesmal haben die EU-Staats- und Regierungschefs eben
nicht, wie vom Parlament gewünscht, einen der
Europawahl-Spitzenkandidaten als Kommissionschef ausgewählt, sondern
von der Leyen als Kandidatin aus dem Hut gezaubert. Auch deshalb ist
ihre Position jetzt so wackelig, der Rückhalt bei den großen
Fraktionen so fraglich.

«Ich weiß, dass wir natürlich einen holprigen Start hatten», sagt d
ie
Kandidatin. «Dessen bin ich mir absolut bewusst. Ich kann die
Vergangenheit nicht heilen, es ist eine Tatsache.» Will heißen: Tragt
mir das nicht nach, ich kann nichts dafür.

Allerdings gibt gerade von der Leyens Situation als Kaltstarterin den
Verfechtern des Spitzenkandidatenprinzips recht. Die beiden
Hauptbewerber, Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei und
Frans Timmermans von den Sozialdemokraten, mussten sich schon im
Wahlkampf zu allen erdenklichen Fragen erklären, auch im deutschen
Fernsehen, so dass man am Ende sagen konnte: Die Wähler kennen die
Bewerber und wissen, was sie kriegen. Von Ursula von der Leyen wusste
das bisher niemand. Nun wird sie auf alle wichtigen Themen
abgeklopft.

Nach den Sozialdemokraten, die von der Leyen hinter verschlossenen
Türen befragten, und den Liberalen sind am späten Nachmittag dann
auch noch die Grünen dran. Auch sie übertragen live ins Internet -
und setzen von der Leyen weit mehr zu als die recht freundlichen
Liberalen.

Die CDU-Politikerin macht auch den Grünen Zugeständnisse: Statt um 40
Prozent soll bis 2030 der Ausstoß an Treibhausgasen in der EU um 50
Prozent unter den Wert von 1990 sinken. Für die christdemokratische
EVP ist das ein großer Schritt. Doch der Grünen-Klimaexperte Bas
Eickhout reagiert scharf. Das Parlament habe doch schon 55 Prozent
gefordert - sollen die Grünen etwa einen Rückschritt akzeptieren? So
geht es von der Leyen mehrfach. Mindeststeuersätze, VW-Skandal,
Mercosur: Auf sehr gezielte Fragen kommen nun recht allgemeine
Antworten - und bissige Repliken der grünen Fragesteller.

Von der Leyen bleibt ruhig, aber nicht nur ihre Stimme wirkt nach
diesem langen Tag nun etwas angegriffen. Bei einigen Fragen weiß sie
schon vorher, dass die Antwort den Grünen nicht genügt: «Ich bin
nicht sicher, ob sie zufrieden sind, ich sehe schon ihre Reaktion»,
sagt sie. Und auch dies: «Ich weiß, dass sie manchmal verrückt
werden, weil es nicht schnell genug vorangeht.»

Nach ihren Auftritten hört die Kandidatin einige freundliche Worte.
Sie habe «einen guten Eindruck hinterlassen», erklärt die liberale
Gruppe Renew Europe. Aber auf Zustimmung bei der Wahl will sich weder
die liberale Fraktion festlegen noch die sozialdemokratische. Die
Grünen erklären nach der Anhörung gar, von der Leyen sei «einfach
keine Kommissionspräsidentin, die die Grünen-Fraktion unterstützen
kann». Doch von der Leyen kämpft. Zwischendurch twittert sie ein Bild
von einer «kurzen Pause»: die Kandidatin in zartblauem Blazer in
einem großen weißen Sessel, angespannt, konzentriert, entschlossen.