Kapitänin Rackete und das «humane Niemandsland» Von Annette Reuther und Ansgar Haase, dpa

18.07.2019 16:39

Am südlichen Zipfel von Europa taucht Carola Rackete aus der Deckung
wieder auf. Hoch im Norden des Kontinents beschäftigen sich Minister
mit dem, was die Sea-Watch-Kapitänin im Alleingang zu lösen versucht
hat.

Agrigent/Helsinki (dpa) - Die Frau, die Europa spaltet, kommt
pünktlich in den eher schmucklosen Justizpalast. Schwarzes T-Shirt,
schwarze Hose. Begleitet von ihren Anwälten geht Carola Rackete zum
Verhör. Mehr als zwei Wochen war die deutsche Sea-Watch-Kapitänin in
Deckung gegangen, gab hie und da zwar mal Interviews. Der
Aufenthaltsort war aber unbekannt, irgendwo in Italien. Am Donnerstag
musste sie nun der Staatsanwaltschaft in der sizilianischen Stadt
Agrigent vier Stunden Rede und Antwort stehen.

Fragen der umstehenden drängelnden Reporter beantwortet sie hingegen
nur knapp. «Es ist mir sehr wichtig, darauf aufmerksam zu machen,
dass es gar nicht um mich als Person gehen soll, sondern es sollte um
die Sache gehen», sagt Rackete. Sie erwarte von der EU, dass diese
sich schnell auf ein Verteilungssystem für Bootsflüchtlinge einige.

Doch danach sieht es nicht aus. Bundesinnenminister Horst Seehofer
und sein französischer Amtskollege Christophe Castaner versuchten bei
einem EU-Treffen in Helsinki vergeblich, zumindest eine
Übergangsregelung auf den Weg zu bringen. Erst Anfang September soll
es jetzt soweit sein - zumindest dann, wenn sich bis dahin rund ein
Dutzend Staaten zu einer Teilnahme bereiterklären und auch Italien
und Malta zustimmen.

Er habe mittlerweile das Gefühl, dass Europa in zwei Kontinente
gespalten sei, kommentiert der luxemburgische Außenminister Jean
Asselborn verbittert. Auf der einen Seite gebe es das «zivilisierte
Europa», auf der anderen «humanes Niemandsland».

Wen Asselborn kritisiert, ist klar: Vor allem die mitteleuropäischen
Länder Polen und Ungarn sträuben sich seit Jahren vehement gegen
jegliche EU-Regelung, die zur Aufnahme von Flüchtlingen führen
könnte. Die Seenotrettungseinsätze werden von ihnen als «Pull-Faktor
»
gesehen, als Anreiz für Migranten in Libyen in seeuntüchtige Boote zu
steigen. Im Idealfall sollen die Grenzen komplett geschlossen werden.

Der «Fall Rackete» steht exemplarisch für den Streit. Die Deutsche
war Ende Juni mit der «Sea-Watch 3» unerlaubt in den Hafen von
Lampedusa gefahren, weil sie um das Wohlergehen und das Leben der 40
Migranten an Bord fürchtete. Seitdem tobt ein Glaubenskrieg: Hat sie
rechtens gehandelt oder nicht? Ist die 31-Jährige aus Niedersachsen
Heldin oder Verbrecherin? Einige Unterstützer rufen ihr am Donnerstag
«Brava, Brava» zu, andere entladen ihren Hass im Netz. Polizeischutz
hat Rackete aber nicht.

Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Beihilfe zur illegalen Einwanderung
und Widerstand gegen ein Kriegsschiff vor. Denn Rackete hatte sich
nicht nur über das Verbot der populistischen Regierung hinweggesetzt,
sondern bei der Einfahrt in den Hafen ein Schiff der Finanzpolizei
gestreift - oder «gerammt», wie Italiens Innenminister Matteo Salvini
gerne sagt.

Doch mit einer schnellen Entscheidung rechnet weder die
Staatsanwaltschaft selbst, noch die Hilfsorganisation. Es kann sich
wie in anderen Fällen bei NGOs Monate hinziehen, bis Rackete weiß, ob
ihr in Italien der Prozess gemacht wird oder nicht. Ob sie nach
Deutschland zurückgehen würde, fragt ein Reporter Rackete. «Ja», sa
gt
sie knapp. Eine für Freitag angepeilte Pressekonferenz in Rom mit der
Kapitänin wurde abgesagt.

Lange Ermittlungen spielen Politikern wie dem Rechtsaußen-Mann
Salvini in die Hände. Denn solange diese laufen, sind die ungeliebten
Schiffe festgesetzt und können somit keine Migranten retten. So liegt
auch die «Sea-Watch 3» derzeit auf Sizilien.

Bei dem EU-Treffen im 2700 Kilometer entfernten Helsinki hat Salvini
deswegen am Donnerstag auch gar keine Eile, an einer schnellen
Einigung auf einen Übergangsmechanismus mitzuarbeiten. Seehofer zeigt
am Ende sogar Verständnis für Argumente von Salvini, der befürchtet
auf den «Illegalen», «die schwer abzuschieben sind», sitzenzubleibe
n.

«Man muss immer mitbedenken, auch als NGO, dass man durch das Tun
nicht den Schleusern in die Hände arbeitet», sagt Seehofer. Er habe
nie behauptet, dass die Rettungsschiffe mit Schleusern
zusammenarbeiteten. Für die NGOs gebe es aber eine Mitverantwortung
für die Entwicklung. «Wir müssen alle, auch die NGOs, darauf achten,

dass wir mit unseren Maßnahmen keine neuen Anreize für illegale
Migration über das Mittelmeer schaffen», sagt er.

Den NGOs dürften Äußerungen dieser Art gar nicht gefallen. «Carola

Rackete hat nichts Böses getan», sagte Elisa de Pieri von Amnesty
International. «Es sind die italienischen Behörden und die der
anderen EU-Staaten, die die Gesetze gebrochen haben.» Rackete
entschwindet nach dem Verhör wieder - zumindest eins ist
sicher: Sollte es eine nächste Mission der «Sea-Watch 3» geben, wir
d
sie nicht am Steuer stehen.